Wie sehr prägten Alt-Nazis den Neuanfang der Justiz in Koblenz vor 75 Jahren? Vieles liegt noch im Dunkeln
Gab es einen bewussten Bruch mit der NS-Zeit? Vieles liegt noch im Dunkeln. „Wir suchen nach Wegen“, sprich Geld für Experten, die die Historie aufarbeiten, sagen sowohl OVG-Präsident Prof. Lars Brocker, OLG-Präsident Thomas Henrichs als auch Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer unserer Zeitung.
Kaum jemand ohne Parteibuch
Auch im jungen Rheinland-Pfalz mit der heimlichen Justizhauptstadt Koblenz war 1946 die Suche nach unbelasteten Juristen äußerst schwer. In einer Chronik zum 50. OLG-Geburtstag heißt es, dass der erste OLG-Chef Karl Haupt für seinen Bezirk 115 Richter brauchte. Aber die Stellen seien unmöglich mit Juristen ohne frühere NSDAP-Mitgliedschaft zu besetzen, wie er vorrechnete. Denn in Koblenz lebten 1946 nur zehn Richter und ein Staatsanwalt, die kein braunes Parteibuch hatten. Und: Die wenigsten der 1933 von den Nazis entlassenen jüdischen Juristen hatten den Völkermord überlebt.
Der frühere Richter und im Förderverein Mahnmal Koblenz äußerst aktive Joachim Hennig hält die Aufarbeitung der Historie für „unbedingt nötig“. Denn der für seine mahnenden Recherchen ausgezeichnete Koblenzer benennt auf der Internetseite des Vereins unter der Rubrik „Täter“ auch vier Juristen, die es teils trotz Beteiligung an fragwürdigen Todesurteilen schafften, in den rheinland-pfälzischen Staatsdienst zu kommen.
Zu denen, die unter der Robe den Dolch des Mörders verborgen hatten, gehörte – so Hennig – beispielsweise Staatsanwalt Leonhard Drach, der „nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch Mitglied der SA und SS-Fördermitglied“ war. Nach der Besetzung Luxemburgs habe Drach an Sondergerichten in Serie Todesstrafen gefordert, auch bei kleineren Delikten. Nach dem Krieg wurde er trotzdem Erster Staatsanwalt in Koblenz, aber im April 1946 an Luxemburg ausgeliefert, 1951 zu 20 Jahren Zwangsarbeit beziehungsweise Zuchthaus verurteilt, zu Weihnachten 1954 allerdings begnadigt.
Hennig zitiert den Kommentar eines früheren luxemburgischen Justizministers mit den Worten „Wir haben den Dreck über die Mosel abgeschoben“. Und im jungen Rheinland-Pfalz fasste Drach wieder Fuß, wurde 1960 sogar noch zum Oberstaatsanwalt befördert – am Verfassungstag.
Wie sehr die alte NS-Ideologie den Bundesgerichtshof noch in den 1950er-Jahren prägte, zeigt auch ein Entschädigungsprozess. Ihn konnten Verfolgte letztlich vor rheinland-pfälzischen Richtern gewinnen, zuvor waren sie allerdings auch am Landesamt für Wiedergutmachung verzweifelt. Anders das Landgericht Trier und das OLG Koblenz gab der BGH noch 1956 dem Land recht, dass es einen sogenannten „Zigeunermischling“, so der damalige Sprachgebrauch, nicht für Haft und Deportation nach Polen entschädigen müsse. Denn der Betroffene sei nicht aus rassistischen Gründen deportiert worden. Es habe sich um polizeiliche Vorbeugungsmaßnahmen gehandelt, weil umherziehende „Zigeuner“ zur Kriminalität neigen würden, „besonders zu Diebstählen und Betrügereien“.
Stoff für eine Studie könnten Historiker in Rheinland-Pfalz also mehr als genug finden. Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer wäre daran sehr interessiert. Er hat nach dem Umzug der Staatsanwaltschaft Trier in ein Gebäude, in dem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) staatlich angeordnete Verbrechen begangen hatte, ein Forschungsprojekt der Universität Trier angestoßen. Daher hofft er, mit der Koblenzer Hochschule ähnlich erfolgreiche Kontakte aufnehmen zu können. Denn das Honorar einer interessierten Historikerin sprenge seinen finanziellen Rahmen, wie im Gespräch deutlich wird. Auch OLG-Präsident Thomas Henrichs und der Präsident des Oberverwaltungsgerichts, Prof. Lars Brocker, suchen nach Möglichkeiten, die Anfänge der Justiz im Land zu beleuchten. Mahnend hatte Brocker zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht gewarnt: „Richter können nicht nur Verteidiger der Freiheit sein, sondern umgekehrt sogar zu ihren Totengräbern werden.“ Aber ihm ist auch bewusst, dass eine profunde Untersuchung „nicht mit Bordmitteln und nicht ohne professionelle Begleitung eines Historikers“ zu stemmen ist.
Mertin: Rechtsstaat verteidigen
Womöglich lässt sich mit Justizminister Herbert Mertin (FDP) eine finanzielle Lösung finden. Denn die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Justiz ist für ihn ein sehr wichtiges Thema, wie er betont: „Den Rechtsstaat kann man am besten verteidigen, indem man aufklärt, wie man ihn untergraben kann“, sagt er. Und er signalisiert: „Wir haben die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Justiz bereits in der Vergangenheit unterstützt und würden diese gegebenenfalls, in enger Abstimmung mit den Gerichten und Staatsanwaltschaften, in angemessener Weise wieder unterstützen.“
Corona-bedingt verzichtet die Koblenzer Justiz zum 75. Geburtstag auf eine Feierstunde. Nur eine Broschüre ist in Arbeit.