Nicole: In Tel Aviv stand die Erde still

Vor ihrem Publikum den Hut zu ziehen, ist ein festes Abschiedsritual bei Nicoles Konzerten. Allerdings war es bislang immer nur ein imaginärer Hut. „Wenn ich irgendwann wirklich einen Hut dabei habe, dann wird das definitiv meine letzte Verbeugung sein“, sagt die 47-jährige Sängerin im Interview mit uns. Der Zeitpunkt sei aber noch vollkommen ungewiss.
Vor ihrem Publikum den Hut zu ziehen, ist ein festes Abschiedsritual bei Nicoles Konzerten. Allerdings war es bislang immer nur ein imaginärer Hut. „Wenn ich irgendwann wirklich einen Hut dabei habe, dann wird das definitiv meine letzte Verbeugung sein“, sagt die 47-jährige Sängerin im Interview mit uns. Der Zeitpunkt sei aber noch vollkommen ungewiss. Foto: dpa

Hier sitzt ein Profi, der schon alles erlebt hat: Perfekt gestylt mit blonder Mähne, aber dennoch leger mit Jeans und T-Shirt ist Nicole zum Interview erschienen. Ihren jugendlichen Esprit hat die 47-Jährige nicht eingebüßt.

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Vor 30 Jahren: Nicoles Grand-Prix-Sieg als erste Deutsche.
Vor 30 Jahren: Nicoles Grand-Prix-Sieg als erste Deutsche.
Foto: dpa
Was bedeutet für Sie Heimat?

Familie, Freunde, gewohnte Umgebung, Landschaft.

Wenn Sie in Deutschland oder irgendwo auf der Welt unterwegs sind: Wann fangen Sie an, den Blick auf den Bostalsee zu Hause in Neunkirchen an der Nahe zu vermissen?

(lacht) Nach 14 Tagen ist es so, dass man sagt: Jetzt könnte es mal wieder nach Hause gehen. Mit einer Ausnahme: Nach zwei Wochen in Südafrika würde ich noch keinen Tag lang die Heimat vermissen.

Das ist ein Traumziel von Ihnen?

Ja, besonders Kapstadt.

Dort haben Sie Ihre Silberhochzeit gefeiert.

Ja genau, auf dem Tafelberg.

Wie kamen Sie darauf?

Als wir zum ersten Mal auf dem Tafelberg waren und diese Weite gesehen haben: Robben Island, die Wale, die Nase in der Wolke und die Füße nicht. Das ist so unwirklich, ein magischer Ort zwischen Himmel und Erde. Da dachten wir: Das wäre genau richtig, um sich noch mal die Treue zu schwören auf weitere 25 Jahre.

Wie haben Sie Kapstadt für sich entdeckt?

Ich habe dort für eine Fernsehserie gedreht. Als ich meinen Fuß auf den Boden setzte, habe ich direkt meine Promoterin an die Hand genommen und gesagt: Stopp, hier passiert gerade was mit mir. Ich bin hier wie zu Hause. Das war so vertraut. Dann bin ich durch Kapstadt gelaufen, völlig angstfrei, und habe ein Glas Wein getrunken. Das kann man dort ja sehr gut. Dort zahlt man eben 80 Cent und nicht 3,90 Euro.

Lassen Sie uns noch mal von der fernen in die nahe Heimat zurückschweifen: Was kennzeichnet Sie als heimatverbundene Person?

Ich bin Saarländerin, und uns sagt man eine sehr starke Heimatverbundenheit und Bodenständigkeit nach. Nachbarschaftshilfe wird großgeschrieben. Ich bin Saarland-Botschafterin, fördere also meine Heimat, wenn ich unterwegs bin, außerdem bin ich Trägerin des saarländischen Verdienstordens und Ehrenbürgerin von Neunkirchen. Es in der Tat so, dass ich mich zu Hause wohlfühle. Ich vermisse die große, weite Welt nicht. Ich habe ja die Möglichkeit, von Saarbrücken oder Frankfurt aus mit dem Flieger schnell am anderen Ende der Welt zu sein. Dann freue ich mich aber immer wieder, in mein kleines Dorf zurückzukehren, wo ich eine von vielen bin.

Eine von vielen. Was heißt das?

Ich bin in diesem Dorf aufgewachsen, und alle haben seit meiner Kindheit mitbekommen, dass Musik mein Leben ist, dass ich dafür lebe und sterbe und mein Hobby zum Beruf machen will. Das habe ich geschafft, und es gibt, glaube ich, keinen im Ort, der mir das nicht gönnt. Alle sind ein Teil meines Werdegangs. Als ich die Eurovision erstmals nach Deutschland geholt habe am 24. April 1982, da stand das Dorf kopf. Alle waren stolz auf die kleine Nicole und sagten: „Eine von uns hat das geschafft.“

Wohnt Ihre ältere Tochter Marie-Claire mit ihrer Familie auch noch in Neunkirchen?

Ja, sie hat geheiratet und letzten August ihre Tochter Mara bekommen. Ich laufe zwei Minuten bis zu ihr nach Hause.

Sie sind Saarländerin aus Überzeugung. Aber Ihr Abitur haben Sie in Birkenfeld gemacht. Haben Sie zu dieser Gegend auch noch einen Bezug?

Ja natürlich. Das ist ja auch gerade bei uns um die Ecke. Da gibt es alle fünf Jahre Klassentreffen, und ich habe noch keins verpasst. Wenn ich mal spät von einem Auftritt kam, bin ich eben um halb eins dort aufgetaucht. Auch wenn irgendein Schulfest ist oder Tag der offenen Tür, gehe ich dort im Doppelpack mit meiner Freundin hin, die mit mir zusammen Abitur gemacht hat.

Jetzt sind Sie also Großmutter geworden. Ist da mal der Gedanke ans Aufhören aufgetaucht?

Ich werde nicht wie Johannes Heesters noch mit 100 auf der Bühne stehen. Aber wenn ich gehe, wird es keine Abschiedstournee geben, um dann nach drei Jahren festzustellen: Ich hab

ja doch noch Lust. Das ist Verrat am Publikum. Ich habe meinen Fans gesagt, dass darüber mein Bauchgefühl entscheidet. Das kann an irgendeinem Konzertabend sein. Ich ziehe am Ende eines Konzerts immer meinen imaginären Hut, um dem Publikum zu danken. Aber wenn ich irgendwann wirklich einen Hut dabei habe, wird das definitiv die letzte Verbeugung sein. Dann sage ich ganz leise Servus.

Ihre jüngere Tochter Joelle ist jetzt 14. Hat sie von Ihrem musikalischen Talent etwas geerbt und möglicherweise Ambitionen, mehr daraus zu machen?

Beide Töchter sind sehr musikalisch veranlagt, aber ich glaube, dass keine von beiden in die berühmten Fußstapfen treten wird. Joelle wird möglicherweise Springreiterin werden. Und Marie-Claire ist examinierte Logopädin. Dennoch können beide gut singen.

Sie haben bereits mit 16 Jahren die Charts gestürmt und sind ein Jahr später durch Ihren Grand-Prix-Sieg auch international bekannt geworden. Davon träumen heute viele junge Menschen. Gerade durch die Casting-Shows stehen sie plötzlich in der Öffentlichkeit und werden aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen. Was können Sie solchen jungen Leuten raten?

Das ist schwierig, weil die Leute, die dahin gehen, ja mit aller Gewalt „Superstar“ werden wollen. Doch das wird man nicht innerhalb weniger Wochen. Das reift über Jahre, manchmal Jahrzehnte. Dafür muss man anhaltenden Erfolg haben. Es gibt leider Gottes keine Musiksendungen mehr, in denen Talente auf andere Art gefördert werden. Früher gab es den Talentschuppen. Da konntest du hingehen mit deiner Gitarre, singen und musstest dich nicht verbalen Tiefschlägen aussetzen.

Bei dem Thema können Sie sich in Rage reden.

Ja, denn ich finde diese Shows nicht gut. Der Sieger erhält einen Knebelvertrag und wird innerhalb eines Jahres verheizt. Die Leute, die daran verdienen, sind nicht die Künstler, sondern diejenigen, die an den Fäden ziehen. Wenn man nicht genug geerdet ist, kann das an die Psyche gehen. Nicht umsonst beschäftigt jede Sendung Psychologen. Ich dagegen habe mit vier Jahren angefangen zu singen. Mich hat man nicht ins kalte Wasser geschmissen. Ich bin durch eine harte Schule gegangen, habe mich auf Toiletten umgezogen auf verschiedenen Festen, weil keine Garderobe da war. Dadurch habe ich das Geschäft wirklich von der Pike auf gelernt. Aber die Leute bei diesen Shows kommen in eine ganz andere Welt.

Sie haben sich einmal beklagt, dass Sie Ihre ganze Karriere gegen die Schublade kämpfen, durch die Sie mit Ihrem Grand-Prix-Sieg mit „Ein bisschen Frieden“ geraten sind. Wie steht es denn in diesem Kampf inzwischen?

Ich arbeite jetzt seit 30 Jahren daran. Das Gros der Menschen identifiziert natürlich Nicole mit „Ein bisschen Frieden“. Und das ist gut so. Es ist kein Fluch, es ist ein Segen. Dieses Lied passiert einem einmal im Leben. Wir sind eine Einheit: gesucht, gefunden und untrennbar. Es hat eine eigene Magie und verliert nicht an Aktualität. Denn der Wunsch nach Frieden wird immer ungebrochen sein in den Herzen der Menschen.

Es war ja auch ein Lied mit politischer Aussage und Wirkung.

Ja. Damals, am 24. April, das war der laute Sieg mit Blitzlichtgewitter. „Deutschland gewinnt zum ersten Mal die Eurovision.“ Alles spielte verrückt. Aber noch intensiver war der stille Sieg: Das war die Tatsache, dass ich an diesem Abend als deutsches Mädel zwölf Punkte aus Israel bekommen habe und eine Einladung nach Tel Aviv, um dort bei den Soldaten zu singen. Ich sehe mich heute noch auf diesem Kasernengelände. Auf einer Anhöhe Soldaten, Frauen und Männer, uniformiert und mit Gewehren. Ich fing an, mein Lied auf Englisch zu singen – „A little peace“. Dann haben sie die Waffen hingelegt, haben sich an der Hand gefasst, schwiegen diese drei Minuten lang und hörten mir zu. Da stand für mich die Erde still, und ich wurde mir bewusst, was mir gerade zuteil wird. Dieses Bild ist mir so allgegenwärtig, und das macht dieses Lied zu etwas ganz Besonderem.

MICHAEL FENSTERMACHER