London
Genie und Abgrund des englischen Exzentrikers

Der britische Student Mark McGowan (37) rollte am 12. September 2003 eine Erdnuss mit seiner Nase über den Bürgersteig in London: Ein kleiner Spleen hat in England noch nie geschadet.

dpa (Archiv)

London - Der ein wickelt sich in Frischhaltefolie ein, um sich wie ein Wurm zu fühlen. Der andere geht mit einem Hummer Gassi: Ein kleiner Spleen hat in England noch nie geschadet. Im Gegenteil: Die Insel ist stolz auf ihre Exzentriker. Verrücktsein ist quasi patriotische Pflicht.

London – Der ein wickelt sich in Frischhaltefolie ein, um sich wie ein Wurm zu fühlen. Der andere geht mit einem Hummer Gassi: Ein kleiner Spleen hat in England noch nie geschadet. Im Gegenteil: Die Insel ist stolz auf ihre Exzentriker. Verrücktsein ist quasi patriotische Pflicht.

Der britische Student Mark McGowan (37) rollte am 12. September 2003 eine Erdnuss mit seiner Nase über den Bürgersteig in London: Ein kleiner Spleen hat in England noch nie geschadet.

dpa (Archiv)
Wohl kein anderes Land bringt so viele Exzentriker hervor wie Großbritannien. Eine Begabung zum schrulligen Außenseitertum wird auf der Insel „wie ein nationales Ritual kultiviert“, analysiert Hans-Dieter Gelfert, emeritierter Professor für englische Landeskunde in Berlin. „Exzentrizität wird von den Engländern so sehr als nationale Eigenschaft empfunden, dass jede Familie, die einen schrulligen Onkel oder eine spinnerte Tante hat, stolz auf das schwarze Schaf ist.“

Zu den bewunderten Vertretern der Gegenwart zählen: Paul Hurley, der sieben Tage in Frischhaltefolie eingewickelt in einem Matschloch ausharrte, um das Gefühlsleben eines Regenwurms nachempfinden zu können; Mark McGowan, der eine Erdnuss elf Kilometer weit mit der Nase durch London rollte; Mike Madden, Erfinder und Träger eines Huts in Gestalt eines Vogelhäuschens. Der erste Feldversuch endete allerdings damit, dass ein Eichhörnchen mit voller Wucht gegen den Hut sprang und dem Hobby-Ornithologen ein Schleudertrauma beibrachte.

Schon Goethe hob die Neigung der Engländer zur „Eigenwüchsigkeit“ hervor. Was aber ist die Erklärung dafür, dass gerade das Inselvolk diese sehr spezielle Vorliebe entwickelt hat? Viele Experten haben die Frage erforscht. Ihre erste Erkenntnis: Die Engländer sind nicht immer so gewesen. Der Hang zur gehobenen Spinnerei datiert erst aus dem 18. Jahrhundert.

George III in seiner Krönungsrobe 1760.

Angenommen wird, dass die Sache – wie so vieles – mit der Französischen Revolution zu tun hatte. Die tonangebende englische Oberschicht wollte demonstrieren, dass die Freiheit zur vollen persönlichen Entfaltung – nach der die Franzosen erst noch strebten – auf der Insel schon erreicht war. Verrücktsein als patriotische Pflicht sozusagen, denn Frankreich war damals der große Gegenspieler im Kampf um Kolonien und Weltgeltung.

Als Erzvater der englischen Exzentriker gilt der zeitweise geistig verwirrte König Georg III. (1738-1820), der einmal eine Eiche als den König von Preußen begrüßte. Von Anfang an war das Exzentrikertum eng mit dem Hochadel verbunden. „Extravaganzen erfordern eine gewisse Entlastung vom unmittelbaren Daseinsdruck“, erläutert Frank Müller in seinem Essay „Exzentriker – Die Sehnsucht nach dem Anderssein“ bei literaturkritik.de.

So war es im 18. Jahrhundert unter Earls und Lords Mode, sich einen Schmuck- oder Zier-Eremiten zu halten. Dabei handelte es sich um feste Bedienstete, die nichts anderes zu tun hatten, als auf den meist sehr ausgedehnten Landgütern in einer künstlich angelegten Grotte zu wohnen und den Tag mit Nichtstun zu verbringen.

Der Parlamentsabgeordnete Charles Hamilton (1704-1786) schaltete eine Zeitungsannonce, in der es hieß, er suche zum nächstmöglichen Termin einen Freiwilligen, der bereit sei, sieben Jahre in einer Grotte zu leben, ein Wollkleid zu tragen, Haare und Nägel wachsen zu lassen und mit niemandem zu sprechen.

Manchmal wurden die Hochadeligen auch selbst zu Einsiedlern. Dies galt zum Beispiel für Lord Rokeby (1712-1800), der während eines Kuraufenthaltes in Aachen den Entschluss fasste, von Stund an als Amphibie zu leben. Künftig verbrachte er einen Großteil des Tages im hauseigenen Schwimmbad oder im Meer.

Schräge Aristokraten wie er sind der Ursprung des Stereotyps vom „verrückten Lord“, das gerade in Deutschland noch recht lebendig ist – man denke nur an die Edgar-Wallace-Verfilmungen der 60er Jahre oder an Eddi Arent als schmetterlingjagenden Lord Castlepool in den Karl- May-Filmen. Noch vor einigen Jahren wurde der Marquess of Bath in einer Internetumfrage zum „Most Eccentric Brit“ gewählt. Seine größte Leistung besteht in einer sieben Millionen Wörter umfassenden Autobiografie.

Die Blütezeit der englischen Exzentriker war das 19. Jahrhundert. Damals erschienen Klassiker wie „The Book of Wonderful Characters“ (1869) oder „In the Days of Dandies“ (1890). Der Philosoph John Stuart Mill stellte 1857 die These auf: „Das Maß an Exzentrik einer Gesellschaft steht für gewöhnlich in proportionalem Verhältnis zu ihrem Maß an Genie.“ Ähnlich sah es die Dichterin Edith Sitwell (1887-1964), Verfasserin des Standardwerks „Englische Exzentriker“. Sie schrieb: „Exzentrik ist nicht, wie langweilige Leute uns glauben machen wollen, eine Form von Verrücktheit, sondern oft eine Art unschuldiger Stolz. Geniale und aristokratische Menschen werden häufig als exzentrisch betrachtet, weil das Genie wie der Aristokrat vollkommen unerschrocken und unbeeinflusst sind von den Meinungen und Launen der Masse.“

Oscar Wilde 1889.

Der berühmteste Exzentriker des 19. Jahrhunderts war der Dramatiker Oscar Wilde (1854-1900): Im Frackjackett dozierte er vor den Scouts und Goldgräbern des Wilden Westens über die englische Renaissance, und in London konnte man ihn beim Gassigehen mit seinem Hummer beobachten. Wilde zahlte einen hohen Preis für seinen provozierend eigenwilligen Lebensstil: Wegen Homosexualität wurde er 1895 zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die ihn finanziell und gesundheitlich ruinierten. Auch die Abgründe gehören zum Exzentrikertum.

Im 20. Jahrhundert etablierte der Schriftsteller John Ronald Reuel Tolkien („Der Herr der Ringe“) seinen Ruf als Sonderling, indem er als Axt-schwingender Wikinger die Nachbarn verschreckte, beim Bezahlen sein Gebiss auf die Ladentheke legte und im Vorlesungssaal über Kobolde dozierte.

Bis heute wurzelt das Exzentrikertum in einem besonders starken Freiheitsbewusstsein. Frank Müller meint: „Indem der Exzentriker unsere eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Fantasien in Stellvertreterfunktion auslebt, erinnert er uns daran, wie viel persönliche Freiheit wir unnötigerweise verschenken.“

Dabei betrachtet sich der wahre Exzentriker keineswegs als absonderlich, sondern als völlig vernünftig. Für ihn ist der Rest der Welt bizarr. Wichtigtuerische Prominente, die sich mit Allüren oder überkandideltem Auftreten in die Schlagzeilen bringen, sind deshalb genauso wenig als wahre Exzentriker zu betrachten wie Zwangsneurotiker oder gar Serienmörder, die häufig in irreführenden Nachschlagewerken aufgelistet werden.

Exzentrikertum ist keine Krankheit, im Gegenteil: Der Wissenschaftler David Weeks will herausgefunden haben, dass die britischen Inseln etwa 10 000 echte Exzentriker zählen und sich diese eines längeren Lebens erfreuen als der Rest der Bevölkerung. Nonkonformismus ist demnach gesund – zumindest in England.

Allerdings gelten Exzentriker seit jeher als anfällig für Depressionen. Spleen heißt auf Englisch eigentlich Milz und entwickelte sich zunächst zu einem Begriff für Schwermut. Dies deshalb, weil Depressionen im 18. Jahrhundert auf eine Stoffwechselstörung der Milz zurückgeführt wurden. Man schrieb diese Erkrankung damals dem all zu üppigen Genuss von British Beef und dem schlechten englischen Wetter zu. Später fiel vor allem den Beobachtern vom Kontinent auf, dass der Hang zur Melancholie oft mit Schrullen und Marotten einherging.

Wie steht es um die Zukunft des englischen Exzentrikers? Eine Gefahr geht sicher davon aus, dass es in westlichen Gesellschaften keinen besonderen Mut mehr erfordert, sich gegen den Mainstream zu stellen. Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz spricht in diesem Zusammenhang von einem „Konformismus des Andersseins“: Unbedingte Selbstverwirklichung und öffentliche Inszenierung sind so sehr in Mode gekommen, dass sich wahres Exzentrikertum gerade in Überanpassung äußern müsste.

Euan Ferguson, Kolumnist des „Observer“, schrieb vor einiger Zeit, er sei die englischen Exzentriker leid. „Sie haben etwas Selbstgerechtes. Ähnlich wie die Einwohner von Liverpool, die einem ständig erzählen, wie nett und lustig die Leute dort sind, anstatt ganz einfach nett und lustig zu sein. Der Ach-was-bin-ich-doch- verrückt-Exzentriker mit seinen abgedrehten Clubs und spinnerten Obsessionen ist im Grunde schrecklich langweilig.“

Henry Hemming, Autor des Buches „In Search of the English Eccentric“, ist dennoch davon überzeugt, dass die Spezies eine Zukunft hat. Er setzt seine Hoffnung auf Prinz Charles. Eine Nation mit einem König, der in seinem Kräutergärtlein nach eigenem Bekenntnis begütigend auf Schnittlauch und Brunnenkresse einspricht, ist aus Hemmings Sicht noch weit entfernt davon, stinknormal zu werden.

Von Christoph Driessen, dpa

Top-News aus der Region