Einwurf: Soll Rock am Ring nach dem Unwetter abgebrochen werden?

Markus Kuhlen
Markus Kuhlen Foto: Jens Weber

82 Verletzte, acht davon schwer, zwei Reanimationen nach einer Gewitterfront bei Rock am Ring. Und für heute und morgen drohen neue Unwetter. Muss das Festival jetzt abgebrochen werden? Das ist die Frage, die völlig klar und unstrittig im Raum steht. Leider ist die Antwort darauf wenig klar und unstrittig.

Lesezeit: 3 Minuten
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Ein Einwurf von unserem Redakteur Markus Kuhlen

Es gibt sehr gute, unbestreitbare Argumente für einen Abbruch. Ein einziges reicht schon: Nichts ist mehr wert als ein Menschenleben. Und eine Menge von mehr als 90.000 Menschen unter freiem Himmel, die ihre Nächte auf teils überfluteten Campingplätzen verbringen, ist nicht mit 100-prozentiger Sicherheit zu schützen. Das hat der gestrige Freitag brutal vor Augen geführt. Veranstalter und Verantwortliche waren vorgewarnt – und dennoch vergingen keine zehn Minuten zwischen dem Programmabbruch und den ersten Blitzeinschlägen, zwischen der Warnung vor Unwetter und den ersten Verletzten. Augenzeugen sprechen von Verletzten nach Blitzeinschlägen in Pfützen, die überall auf dem Gelände sind, von Blitzeeinschlägen im Bereich der Cateringstände, wo Leute in ihrer Not Schutz gesucht haben. Wo sollen die Menschen auch hin? Zehntausende. Im Zentrum eines Unwetters. Eindeutiges Argument für den Abbruch: Eine Menge dieser Größe ist einem Unwetter, das mit solcher Wucht auf sie niedergeht, nahezu schutzlos ausgeliefert.

Umfrage
Wieder Unwetter erwartet: Soll Rock am Ring abgebrochen werden?

Nach den heftigen Gewittern am Freitag mit 51 Verletzten bei Rock am Ring in Mendig droht auch am Samstag ein Unwetter. Sollte das Festival abgebrochen werden?

Ja, alles andere wäre unverantwortlich. Hier geht es um Menschenleben!
67%
235 Stimmen
Nein! Jeder Besucher ist freiwillig dort – und für sich selbst verantwortlich!
30%
104 Stimmen
Das ist mir egal!
3%
13 Stimmen

Wenn es denn kommt – und genau hier wird die Sache kompliziert. Denn, das zeigen derzeit Rock am Ring sowie die Unwetterlagen in ganz Deutschland, kein noch so großer Experte ist offensichtlich in der Lage, mit ausreichender Vorlaufzeit zu melden, wann es wo wie gefährlich wird. Schlauer, das ist eine Binsenweisheit, ist man immer erst hinterher. Gesetzt den Fall, Rock am Ring wird abgebrochen aufgrund drohender Unwetter: Was bedeutet das für weitere Großveranstaltungen unter freiem Himmel? Für andere Festivals, Rosenmontagszüge, einen Weltjugendtag, ein Oktoberfest? Prophylaktisch absagen, sobald es Unwetterwarnungen gibt? Das ist, dazu muss man kein Experte sein, das Ende der Großveranstaltungen. Niemand kann und wird Events dieser Größe über mehr als ein Jahr planen, wenn die Ausrichtung derart unsicher ist. Verzichten wir generell auf solche trotz aller Gefahren doch positive, verbindende, Menschen prägende Feste?

Oder setzen wir auf die Selbstverantwortlichkeit der Menschen? Denn, auch das ist klar: Wer zu einer Veranstaltung wie Rock am Ring geht, der weiß, dass er dort niemals so sicher sein kann wie zuhause vor dem Fernseher. Und doch sind von 93.000 Menschen gestern „nur“ 82 verletzt worden. Das heißt auch, 92.918 haben alles mehr oder weniger schadlos überstanden. Man kann nur vermuten, wie viele Verletzte es wohl gibt, wenn beim Koblenzer Altstadtfest ein Gewitter dieser Größenordnung hereinbricht – die Quote dürfte nicht viel besser sein. Immer vorausgesetzt, Veranstalter und Verantwortliche erfüllen ihre Pflicht zum Schutz der Besucher optimal – was in den kommenden Tagen noch zu klären sein wird. Muss nicht jeder Mensch selbst abwägen, wie viel Risiko er für sich in Kauf nehmen will? Dass bei Rock am Ring erneut Unwetter drohen, ist ausreichend kommuniziert worden. Was das bedeuten kann, ist spätestens im vergangenen Jahr mit 33 Verletzten im Krankenhaus klar gewesen. Und es braucht nicht mal ein Unwetter: Im Jahr 2000 sind beim seinerzeit größten europäischen Festival in Roskilde acht Menschen gestorben. Erdrückt. Einfach, weil eine Menschenmasse bei einem Auftritt unkontrollierbar wurde.

Wer jetzt für einen Abbruch plädiert, diesen gar als alternativlos darstellt, der kann in letzter Konsequenz eigentlich nur generell gegen Großveranstaltungen dieser Art sein. Das ist legitim, aber es bringt Konsequenzen. Die Antwort auf die Frage nach einem Abbruch von Rock am Ring ist komplizierter als ein einfaches Ja oder Nein. Die Frage nach dem Abbruch von Rock am Ring ist eine, mit der sich die Experten beim Veranstalter, beim Innenministerium, bei den zuständigen Behörden sowie Polizei und Feuerwehr ganz genau beschäftigen müssen – in ihren Händen liegen Menschenleben. Die Frage nach dem Abbruch von Rock am Ring, sie ist eine, bei der ich sehr froh bin, dass ich sie nicht beantworten muss.

[Update:] Die Zahl der Verletzten wurde am Nachmittag vom Innenminister nach oben korrigiert.