Rheinland-Pfalz
Abschlussbericht zum Flutuntersuchungsausschuss kommt am Freitag: Bisher hat niemand Verantwortung übernommen
Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal
Meterhoch türmen sich Wohnwagen, Gastanks, Bäume und Schrott an einer Brücke über der Ahr in Altenahr (Luftaufnahme mit einer Drohne). Im Juli 2021 rauschte eine meterhohe Flutwelle durch das Ahrtal. Dabei starben mindestens 135 Menschen. Im Untersuchungsausschuss des Landtags ging es um Fehler und Versäumnisse.
Boris Roessler/dpa

Mindestens 135 Menschen kamen bei der Flutkatastrophe im Ahrtal ums Leben, Hunderte wurden körperlich und seelisch verletzt. Verantwortung für das Extremhochwasser in Rheinland-Pfalz hat bis heute niemand übernommen. Strafrechtliche Konsequenzen gibt es ebenfalls keine. Eine Entschuldigung blieb auch aus. Dabei gab es politische Versäumnisse und Fehler auf vielen Ebenen, von vielen Protagonisten.

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An diesem Freitag wird der Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Flutkatastrophe im nördlichen Rheinland-Pfalz veröffentlicht. Rund 2.100 Seiten wird das wichtige Dokument umfassen. Zeugenaussagen, Experteneinschätzungen, politische Bewertungen: In dem Report wird nachzulesen sein, was das Gremium in über zweieinhalb Jahren Ausschussarbeit in 47 Sitzungen – gemeinsam mit der kritischen Presse – herausgefunden hat, wer wann am 14. und 15. Juli 2021 was unternommen hat – oder eben nicht – um die schlimmste Naturkatastrophe in Rheinland-Pfalz zu verhindern. Und um Leben zu retten.

Wirklich Verantwortung übernommen für das Extremhochwasser, bei dem im Ahrtal 135 Menschen ihr Leben verloren haben und Hunderte körperlich und seelisch verletzt wurden, hat bis heute niemand. Eine Entschuldigung blieb ebenfalls aus. Obwohl genau diese sich viele Betroffene gewünscht haben. Denn politische Versäumnisse und Fehler gab es auf vielen Ebenen, von vielen Protagonisten.

Anne Spiegel:

Die Flutkatastrophe holte Anne Spiegel (Grüne) in Berlin wieder ein. Dorthin war die politische Aufsteigerin nach der Bundestagswahl 2021 gewechselt. Als Bundesministerin musste die Speyerin im April 2021 im Untersuchungsausschuss in Mainz als Zeugin aussagen.

Ministerin Anne Spiegel
Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen), Ex-Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Ex-Landesumweltministerin.
Kay Nietfeld/dpa

Spiegel blieb, das arbeitete der Untersuchungsausschuss heraus, in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 weitgehend untätig, in Korrespondenzen ihres Ministeriums war sie nicht eingebunden beziehungsweise schaltete sie sich nicht ein. Im Landtagsplenum am Nachmittag des 14. Juli warnte die Grünen-Frau zwar – allerdings nicht vor einer Flutwelle an der Ahr. Um 16.43 Uhr verschickte ihr Haus eine längst überholte und verhängnisvolle Pressemitteilung, darin war von der Ahr keine Rede. Die damalige Ressortchefin wurde folgendermaßen zitiert: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht.“

Abends ging die heute 43-Jährige mit dem damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzenden in Mainz essen. Am Morgen nach der Katastrophe sorgte sich Spiegel, dass der damalige Innenminister Roger Lewentz (SPD) ein Blame Game, also Schuldzuweisungen ihr gegenüber äußern könnte.

Wochen nach ihrem Zeugenauftritt im Mainzer Landtag geriet Spiegel mächtig unter Druck, als bekannt wurde, dass sie zehn Tage nach der Flut für vier Wochen mit ihrer Familie in den Urlaub nach Frankreich gefahren war. Anschließend beantwortete sie eine Anfrage zur Teilnahme an Kabinettssitzungen unwahr. Die Grünen-Politikerin versuchte sich mit einem denkwürdigen Statement vor laufenden Kameras noch zu retten, was misslang. Einen Tag später trat Spiegel zurück. Es war das vorläufige Ende einer politischen Blitzkarriere.

Erwin Manz:

Anders als Anne Spiegel, blieb Umweltstaatssekretär Erwin Manz bis (Grüne) heute im Amt – und das, obwohl Rücktrittsforderungen vonseiten der Landtagsopposition bis heute anhalten. Und obwohl Manz gleich viermal im Untersuchungsausschuss als Zeuge Platz nehmen musste. Die Grünen hielten und halten am Staatssekretär im Klimaschutz- und Umweltministerium bis heute fest, Manz genießt dort viel Anerkennung.

Umweltstaatssekretär Manz
Erwin Manz (Bündnis 90/Die Günen), Staatssekretär im Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität des Landes Rheinland-Pfalz.
Arne Dedert/dpa

Vor dem Landtagsgremium legte der in Schwollen im Kreis Birkenfeld geborene Grünen-Politiker ebenfalls mitunter wortkarge Auftritte hin. Ansonsten blieb Manz bei dem bekannten Wording, also Formulierungen, der Landesregierung. Die lauteten: Sein für den Hochwasserschutz zuständiges Ministerium habe darauf vertraut, dass in der Flutnacht die Abläufe für den Katastrophenschutz vor Ort funktionierten, Pegelprognosen seien am Ort des Geschehens angelangt, die Meldeketten hätten funktioniert. Und: Es habe kein Erkenntnisproblem, sondern ein „Umsetzungsproblem“ gegeben. Manz sagte gar, als Umweltministerium könne man in einer Extremlage wie im Juli 2021 „gar nichts machen“.

Der Grünen-Politiker erklärte auch, die Erkenntnis, dass es sich um eine Flut katastrophalen Ausmaßes handele, sei ihm erst am 14. Juli nach 22 Uhr klar geworden. Bereits um kurz nach 18 Uhr erläuterte er allerdings selbst in einer E-Mail, dass die Pressemitteilung von 16.43 Uhr überholt sei und berichtete von einem „Extremereignis“. Die Frage einer Sprecherin, ob man heute noch etwas tun müsse, verneinte der Staatssekretär. Schon um 18.44 Uhr schrieb die damalige Präsidentin des dem Mainzer Umweltministerium unterstellten Landesamts für Umwelt in einer internen Mail: „Hier bahnt sich eine Katastrophe an.“ Darüber hatte sie auch mit Manz gesprochen.

Manz rief um kurz vor 22.30 Uhr im Lagezentrum des Innenministeriums an, wo er die Aussage erhielt, dass die Lage bekannt sei. Das war sie nicht, wie sich später herausstellte. Im Gedächtnis blieb Manz' Aussage zum Abschluss des Katastrophenabends: Er habe wie immer Fernsehnachrichten geschaut – und dabei ein Bierchen getrunken.

Roger Lewentz:

Im Oktober 2022 stand der langjährige rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) wochenlang unter Druck. Am Tag einer anberaumten Landtagssondersitzung erklärte der damalige Innenressortchef seinen Rücktritt. Es war die zweite Amtsaufgabe (nach Spiegels Rückzug) im Zuge der Aufarbeitung der Fluttragödie.

Untersuchungsausschuss Flutkatastrophe Ahrtal
Roger Lewentz (SPD), Ex-Landesinnenminister sowie SPD-Parteivorsitzender.
Sascha Ditscher/dpa

Lewentz erklärte, dass er die politische Verantwortung für in seinem Aufgabenbereich gemachte Fehler übernehme. Die politische Verantwortung dafür, dass mindestens 135 Menschen im Tal ums Leben gekommen waren, übernahm er explizit nicht. SPD-Parteichef blieb der Sozialdemokrat aus Kamp-Bornhofen (Rhein-Lahn-Kreis).

Nach weit über einem Jahr nach dem Unglück waren im September 2022 völlig überraschend Hubschraubervideos sowie ein Einsatzbericht der rheinland-pfälzischen Polizeihubschrauberstaffel aufgetaucht. Angeblich sollten die Bewegtbilder der Polizei zunächst verschwunden gewesen sein. Die sieben Videos zeigten ab 22.15 Uhr das ganze, dramatische Ausmaß der Naturkatastrophe über etliche Kilometer im schwer getroffenen Ahrtal. Lewentz erklärte, ihm habe der Bericht nicht vorgelegen. Er habe die Videoaufnahmen am Abend beziehungsweise in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli nicht gesehen – sondern erst bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss im September 2022.

Und dennoch: Die Polizeihubschraubervideos erschütterten das bis dahin verbreitete Narrativ des Ministers und seines Hauses. Das lautete: Man habe kein vollständiges, kein belastbares Lagebild gehabt, man sei von einem klassischen Hochwasser ausgegangen. Lewentz selbst hatte im Ausschuss von „Einzelereignissen“ und „punktuellen Informationen“ gesprochen.

Malu Dreyer:

Mit dem Rücktritt ihres Innenministers geriet auch die damalige Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) endgültig in den Fokus. Der frühere CDU-Oppositionsführer Christian Baldauf attackierte die Regierungschefin im Herbst 2022 scharf: Die Landesregierung habe beim Krisenmanagement der Flutnacht „komplett versagt“. Baldauf hielt Dreyer vor, sie hätte sich in der schrecklichen Nacht selbst mehr einbringen müssen.

Interview mit Ministerpräsidentin Dreyer
Malu Dreyer (SPD), ehemalige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz.
Arne Dedert/dpa

Berühmt-berüchtigt sind die brisanten Chatprotokolle aus der Katastrophennacht, zu denen unsere Zeitung getitelt hatte: „Im Blindflug durch die Flutnacht“. Sie zeigten ein Bild der Landesregierung, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli weitgehend im Dunkeln tappte. „Schönen Abend“, schrieb da Dreyer um 21.44 Uhr an Lewentz, als in Dörfern wie Schuld und Insul schon längst die Welt untergegangen war. Es war die letzte Nachricht, die die Ex-Ministerpräsidentin in dieser dramatischen Situation an Lewentz schickte. Die Warnung ihres besorgten Innenministers von 0.58 Uhr hatte die Sozialdemokratin wohl nicht mehr erreicht. „Liebe Malu, die Lage eskaliert“. Dreyer meldete sich erst um 5.33 Uhr wieder.

Dreyer betonte immer und immer wieder, dass eine „ungeheure Flutwelle das Ahrtal“ überrollt habe. Eine solche Naturkatastrophe habe sich niemand vorstellen können. Die Sozialdemokratin sprach immer wieder von einer Zäsur für das Bundesland – aber auch für sie persönlich. Eine persönliche Entschuldigung bei den von der Flut Betroffenen lehnte die SPD-Politikerin bis heute ab.

Über die Wortwahl, dass es ihr unendlich beziehungsweise wahnsinnig leid tue, ging sie nicht hinaus. Im großen Interview mit unserer Zeitung im vergangenen Sommer sagte sie: „Ich kann und muss als Ministerpräsidentin für vieles Verantwortung übernehmen. Für eine Flutkatastrophe kann ich das nicht.“ Dafür erhielt die frühere Regierungschefin viel Kritik – nicht nur von der Opposition.

Thomas Linnertz:

Auch der Rücktritt von Thomas Linnertz (SPD) wurde nicht nur einmal gefordert. Linnertz ist Präsident der Trierer Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion, also politischer Beamter. Als solcher leitet er die Katastrophenschutzbehörde ADD. Linnertz war gemeinsam mit dem Referatsleiter für Brand- und Katastrophenschutz am Abend der Flutkatastrophe in der ebenfalls von Starkregen betroffenen Vulkaneifel sowie in Bitburg-Prüm unterwegs. Am Morgen des 14. Juli hatte die ADD eine Koordinierungsstelle eingerichtet. Hier konnten betroffene Kommunen Unterstützungsbedarf melden. Tage nach dem schlimmen Ereignis übernahm die ADD vom Ahr-Kreis die Einsatzleitung.

Untersuchungsausschuss Flutkatastrophe Ahrtal
Thomas Linnertz (SPD), Präsident der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion ADD.
Sascha Ditscher/dpa

Juristen erklärten im Untersuchungsausschuss, dass dies viel zu spät passiert sei. Ihre Überzeugung: Die ADD habe wegen des Ausmaßes der Katastrophe früher übernehmen müssen. Allerdings gab es am Krisenmanagement und der Krisenbewältigung der ADD nach dem Hochwasser ab dem 17. Juli eine Menge Kritik, Zeugen kritisierten die ADD scharf. Mehrere Ortsbürgermeister berichteten etwa, dass sie tagelang auf sich allein gestellt gewesen seien. Linnertz war der Gesamtverantwortliche für das Krisenmanagement. In einem Gutachten war von einem unzureichenden Führungssystem, von einer wenig effizienten Einsatzleitung die Rede.

Der ADD-Präsident verteidigte sich und sein Handeln stets. Von Dreyer erhielt der Behördenleiter Rückendeckung. Im Winter des vergangenen Jahres holte die sogenannte Urlaubsaffäre seiner Ex-Vizepräsidentin den Spitzenbeamten ein. Begoña Hermann war kurz nach der Flutkatastrophe für zwei Wochen privat in die USA gereist – und hatte hierfür einen dienstlichen Grund im Zusammenhang mit dem Extremhochwasser konstruiert. Linnertz hatte den Urlaub genehmigt.

Das gegen Hermann laufende Disziplinarverfahren wurde vom Mainzer Innenministerium eingestellt. Eine Strafanzeige der CDU gegen Linnertz wegen möglicher uneidlicher Falschaussage vor dem Ausschuss lief ins Leere.

Jürgen Pföhler:

Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) war mit dem ehrenamtlichen Leiter der Technischen Einsatzleitung (TEL) der Einzige, gegen den die Koblenzer Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen im Amt ermittelt hatte. Bis April dieses Jahres. Dann hatte die Justizbehörde die fast drei Jahre andauernden strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Ex-Landrat des Ahr-Kreises eingestellt. Die Entscheidung rief viel Kritik und Unverständnis hervor, Hinterbliebene von Opfern wehren sich bis heute gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

Ermittlungen zur Flutkatastrophe im Ahrtal
Jürgen Pföhler (CDU), ehemaliger Landrat des Kreises Ahrweiler.
Arne Dedert/dpa

Auch der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler hatte bei seiner Begründung zu Pföhler klare Worte gefunden. Als politisch sowie administrativ Gesamtverantwortlicher trage der CDU-Politiker in erster Linie die Verantwortung für das Katastrophenschutzsystem des Kreises. Der Gesamtverantwortung könne er sich auch nicht bei einer Naturkatastrophe entziehen. Allerdings begründeten diese Mängel noch keine Strafbarkeit, so Mannweiler.

Pföhler hatte die Einsatzleitung bereits 2018 an einen ehrenamtlichen Feuerwehrmann delegiert. Außerdem nahm der Jurist während seiner Amtszeit seit 2000 offenbar an keiner Katastrophenschutzübung in der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung teil. Obwohl diese unmittelbar vor seiner Haustür lag. Der Katastrophenschutz im Kreis Ahrweiler war im Juli 2021 – vorsichtig formuliert – unzureichend organisiert. Es gab keinen Alarm- und Einsatzplan Hochwasser, keine Stabsdienstordnung und damit keinen Verwaltungsstab sowie viel zu wenig und überfordertes Personal in der Einsatzzentrale während der Flutnacht. Die war zudem technisch schlecht ausgestattet. Vor dem Untersuchungsausschuss schwieg Pföhler.

Statt im Kreishaus das Heft in die Hand zu nehmen, warnte der CDU-Mann seine unmittelbaren Nachbarn in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Ex-Landrat lehnte 2021 einen Rücktritt ab, ließ sich krankschreiben und wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzen.

Hinweis der Redaktion: Im letzten Absatz des Artikels wurden zwei Sätze aufgrund neuer Informationen zu Details der Flutnacht entfernt.

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