Die deutsche Zurückhaltung dürfte ihre Gründe auch in der jüngeren Vergangenheit haben. „Nach den schlechten Turnieren ist es selbstverständlich, dass nicht ganz Deutschland hinter uns steht“, erklärte Kai Havertz. „Wir müssen die Fans ein bisschen ins Boot holen. Es war wieder eine gute Atmosphäre, es hat wieder Spaß gemacht, hier in Deutschland zu spielen.“ Demnach war es für den Angreifer vom FC Chelsea offenbar zuletzt nicht immer ein Vergnügen, in der Heimat zu spielen.
Rudi Völler als Allzweckwaffe
Der Liebesentzug gründet auf zwei verkorksten Welt- und einer missratenen Europameisterschaft sowie einer fortschreitenden Kommerzialisierung der DFB-Auswahl gepaart mit einer Entfremdung von den eigenen Fans. Rudi Völler – DFB-Sportdirektor, Allzweckwaffe und Sympathieträger in Personalunion – ist angetreten, um vieles von dem geradezurücken, was sein Vorgänger Oliver Bierhoff vorantrieb oder zumindest zuließ. Ein öffentliches Training der Nationalmannschaft, wie es Völler vor dem Mainz-Spiel in Frankfurt anberaumt hatte, ist da schon etwas Besonderes und steht für die neue Nähe zum Fußballvolk. So weit ist es schon gekommen.
„Wir müssen als Einheit und mit viel Teamspirit auftreten und das mit der fußballerischen Qualität verbinden“, gab der einstige Stürmer Völler als Losung aus. Verbandspräsident Bernd Neuendorf ergänzte: „Identifikation kommt auch über Emotionen, und diese Emotionen wollen die Leute auf dem Platz sehen.“ Das neue dynamische Duo beim DFB hat als großen Trumpf und Euphorieverstärker die Heim-EM im nächsten Jahr und im eigenen Land in der Hinterhand. „Das ist etwas Wunderbares“, weiß Völler. Und das sollten auch die Spieler wissen.
Der nächste Leistungs- und Stimmungstest steht am Dienstag (20.45 Uhr, RTL) in Köln an. Gegner Belgien ist gewiss eine andere Hausnummer als die unkonventionell spielenden Peruaner. „Das ist ein anderes Kaliber“, stellte Bundestrainer Hansi Flick klar.
Zwei Stürmer sind besser als keiner
So wird sich sein Team steigern müssen. Der Neuanfang ist aber auch sportlich gemacht. Die Systemumstellung auf zwei Stürmer – nachdem jahrelang im DFB-Kosmos noch nicht mal ein echter Stürmer gewollt war – zahlte sich aus. Füllkrug ist durch nunmehr fünf Tore in fünf Länderspielen der Hoffnungsträger, seine Stärken hat der 30-Jährige aber definitiv beim Torabschluss und nicht im Kombinationsspiel während der Torvorbereitung.
Der schnelle Timo Werner geht derweil weite Wege und schafft Räume, vor dem Tor agierte der Leipziger aber auch in Mainz äußerst unglücklich. Gleichwohl verfügt Flick in der vorderen Reihe über viele Möglichkeiten in Havertz, Florian Wirtz, Serge Gnabry oder auch dem diesmal pausierenden Leroy Sané. Auf den auch in Katar sensiblen Außenverteidigerpositionen zeigten in Mainz David Raum (links) und Marius Wolf (rechts) viel Einsatz und gute Ansätze. „Marius entfacht sehr viel Dynamik auf der Seite“, lobte Flick den ehemaligen Frankfurter, der gleichwohl einige Abspielfehler in sein erstes Länderspiel einstreute.
Beim deutschen Orientierungslauf zum Neustart konnte selbstredend noch nicht alles perfekt sein. Vieles stimmte, einiges war wie früher – etwa Joshua Kimmichs Kapitänsbinde in Schwarz-Rot-Gold anstatt nach der überladenen WM-Debatte in Regenbogenfarben –, und so zog die derzeit neue Nummer eins im deutschen Tor, Marc-André ter Stegen, ein versöhnliches Fazit: „Die Leute haben sich gefreut, die Nationalmannschaft wiederzusehen.“