Nachspielzeit
Was Lennart Grill mit Sepp Maier zu tun hat: Die Herren Eggeling und Cuisance sowie eine Ente als Bindeglieder
Sascha Nicolay
Sascha Nicolay
Jens Weber. MRV

Haben Sie, liebe Fußballfreunde aus dem Kreis Birkenfeld, am Wochenende auch mitgelitten, als Lennart Grill im Berliner Olympiastadion vom Platz gestellt wurde?

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Ich habe es getan, weil aus unserer Region nicht sonderlich viele Profifußballer kommen, weil ich den Keeper aus dem „Daal“ schätze und sogar mit ihm und „seinen“ Vereinen mitfiebere. Und weil ich niemandem solche vernichtenden Kommentare gönne, wie sie seit Freitagabend in den so genannten „sozialen Netzwerken“ von ziemlich vielen „Fans“ von Eintracht Braunschweig zu lesen sind. Glücklicherweise gibt es aber noch Arnd Zeigler und dessen wunderbare Fußballwelt.

Ein paar Millimeter auf dem Schuh entscheiden

Lennart Grill hat zweifellos schon deutlich lustigere Momente in seiner Laufbahn als Fußballer erlebt, als jenen am Freitagabend im Berliner Olympiastadion. Das Loch, das er in die Berliner Luft beim Klärungsversuch an der Strafraumgrenze getreten hat, zog gleich einen ganzen Strauß an Konsequenzen nach sich. Und für Grill dürften sich alle wie kleine Messerstiche angefühlt haben. Was so ein paar Millimeter für Auswirkungen haben können.

Viel mehr lag nämlich nicht zwischen Applaus für weitsichtiges Mitspielen und Häme wegen angeblich fehlender fußballerischer Fähigkeiten. Ein paar lächerliche Millimeter, irgendwo zwischen Stollen und Lasche von Grills linkem Fußballstiefel haben entschieden. Also – Luftloch, und dann kommt es knüppeldick: Grill will retten, was kaum noch zu retten ist, hechtet Michael Cuisance, dem Herthaner, der von seinem Missgeschick profitierte, hinterher. Grill erwischt den Ball nicht mehr, dafür die Haxen von Cuisance. Und wieder liegen nur ein paar Millimeter zwischen schlimmstmöglicher Bestrafung und etwas Hoffnung. Hat Grill Cuisance auf dem Kreidestrich des Strafraums „gestoppt“ oder doch kurz davor? Schiri Robin Braun und VAR Guido Winkmann haben Adleraugen und sagen „eindeutig“ auf der Linie, also im Strafraum.

Die Vielbestrafungsmaschinerie des Profifußballs

Damit setzt sich die Vielbestrafungsmaschinerie des Profifußballs in Gang. Erstens: Lennart Grill sieht die Rote Karte wegen Notbremse und weil sein Angriff nur dem Mann und nicht dem Ball galt. Zweitens: Er wird mindestens ein Spiel gesperrt werden. Drittens: Es gibt Elfmeter für Hertha BSC Berlin, der – viertens – zum 1:1-Ausgleich führt. Fünftens: Eintracht Braunschweig muss in Unterzahl spielen. Das geht – sechstens – schief, und Hertha BSC dreht das Spiel komplett. Damit sind – siebtens – wichtige Punkte im Braunschweiger Abstiegskampf weg. Achtens muss Grill nun um seinen Stammplatz fürchten. Und neuntens zerreißen ihn die eigenen Fans in der Luft – natürlich „nur“ im übertragenen Sinne auf Facebook, Instagram und anderen sozialen Medien. Da stellt sich schon die Frage, ob Torhüter im Profifußball wirklich so ein Traumjob ist, wie alle glauben...

Aber vielleicht ja doch – denn nur auf diese Art kam man es in die beste Fußballsendung im deutschen Fernsehen schaffen, in Arnd Zeiglers „Wunderbare Welt des Fußballs“. Am späten Sonntagabend zeigt Moderator und Namensgeber Arnd Zeigler nämlich Grills Fauxpas und fragt sich dann, woran ihn der Rettungsversuch im Rückwärtsflug des Mittelbollenbachers bloß erinnere? Die Antwort: An Sepp Maier und dessen legendären Entenjagd im Olympiastadion – freilich dem von München.

Als der Katze aus Anzing langweilig war

Sie erinnern sich bestimmt, liebe Leserinnen und Leser, an jenen 15. Mai 1976. Der FC Bayern München spielte gegen den VfL Bochum. Gerd Müller verwandelte gerade einen Elfmeter zum 4:0 für die Bayern, als Sepp Maier eine verirrte Ente am Spielfeldrand erspähte. Der Katze von Anzing, wie der Sepp bekanntlich wegen seiner Geschmeidigkeit und dem Wohnort seiner ersten Braut genannt wurde, war ein bisschen langweilig. Also beschlich der Sepp die Ente, setzte zum Sprung an – und verfehlte das Federvieh knapp.

Und da liegt auch schon ein Unterschied zu Lennart Grill. Während die Ente reaktionsschnell und beweglich genug war, Sepp Maiers Jagdflugeinlage mit einigen Flügelschlägen und ein paar Hopsern zu entgehen, schaffte Michael Cuisance das nicht und wurde vom Mittelbollenbacher Keeper im Braunschweiger Trikot – um im Jägerlatein zu bleiben – zur Strecke gebracht.

Nur am Stammtisch wäre posaunt worden

Ein weiterer Unterschied liegt in der Zeit. Wenn Sepp Maier vor 48 Jahren nicht die Ente, sondern einen Bochumer Gegenspieler – sagen wir Heinz-Werner Eggeling – im Hechtsprung gejagt und auch noch erwischt hätte, dann hätte es vermutlich maximal Freistoß für den VfL Bochum gegeben. Nie und nimmer hätte Schiedsrichter Gert Meuser solche Adleraugen gehabt wie sein Kollege an der Pfeife fast ein halbes Jahrhundert später. Und wenn doch, dann hätte er sich nie und nimmer getraut Elfmeter zu geben und den Maier Sepp auch noch vom Platz zu stellen. Die Doppelstrafregel gab es ja auch nicht.

Eines wäre allerdings gleich gewesen. Die „Fans“ hätten sich das Maul zerrissen, hätten festgestellt, dass Sepp Maier gar nicht so gut sei, wie er immer gemacht werde. Nur hätte diesen Unsinn kaum jemand mitbekommen, weil er nämlich nicht online in alle Welt hinausposaunt worden wäre, sondern nur am Stammtisch in diversen oberbayerischen Gasthöfen. Lennart Grill wird dieser kleine Exkurs in die Vergangenheit kaum trösten, aber vielleicht doch das: Es gibt für einen Torhüter deutlich Schlimmeres als mit Sepp Maier verglichen zu werden...

E-Mail: sascha.nicolay@rhein-zeitung.net

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