Sascha Nicolays Nachspielzeit
Von Phantomtoren und Stollen in Kabinentüren
Sascha Nicolay
Jens Weber. MRV

Phantomtore sind im Fußball gar nicht so selten, wie manche meinen. Als Kicker schießt und kassiert man sie seit frühester Jugend - und manchmal steckt man danach auch in einer Kabinentür des SC Idar-Oberstein.

Phantomtore scheinen gerade „in“ zu sein. Innerhalb kurzer Zeit haben gleich zwei davon die Gemüter im Fußballkreis Birkenfeld erhitzt. In Bockenau kostete ein solcher Phantomtreffer den SC Birkenfeld zumindest einen Punkt, und in Fischbach sorgte solch eine Hütte für die Führung des TuS Mörschied II im Kellerduell mit den „Eulen“.

Lustig fanden weder die Birkenfelder noch die Fischbacher diese Tore, doch eigentlich ist man als passionierter Kicker doch seit frühester Kindheit daran gewöhnt – zumindest, wenn man auf Bolzplätzen, Wiesen, Schulhöfen, Garageneinfahrten oder sonstwo gebolzt hat, wo keine drei Stangen mit Netz standen, sondern die Tore von Taschen, Stöcken, Jacken, Steinen, Blättern oder Mitschülern gebildet wurden.

Der Siegtreffer für die Klasse 3a

Ich selbst kann mich an mehrere Phantomtore erinnern. Und zwar an solche, die ich erzielt habe, aber auch an einige, die ich wegstecken musste. Da war zum Beispiel jener wunderbare Kopfballtreffer im Herbst 1980 auf einem Rasenstreifen des Hofs der Grundschule der Wildenburgschule in Kempfeld. Die Nachspielzeit im Duell der Klasse 3a gegen die 3b war längst angebrochen. Das heißt, die Lehrer Deutschewitz und Theis beschäftigten sich schon wieder mit Problemen der Sachkunde, des Rechnens oder der Rechtschreibung. Sie ließen im Übungsheft „Ulli, der Fehlerteufel“ trainieren oder schrieben ellenlange Texte über die Waage oder den Wasserdruck an die Tafel.

Wir Jungs aus der Herrn Deutschewitz’ 3a und Herrn Theiß’ 3b hätten da ja gerne mitgemacht, aber das Pausenspiel stand halt 8:8 – und in der Verlängerung wollte das nächste Tor, dass die Partie entschieden und die Pause auch für uns Kicker offiziell beendet hätte, einfach nicht fallen. Da endlich gab es Einwurf in der Flucht der beiden Jacken, die die Torpfosten mimten. Die „Sunkist“-Packung, die – obwohl sie so gar nicht rund war – als Ball diente, flog vor das Jackentor. Und da war ich für einen Moment Hans-Peter-Briegel. Ich habe mich hochgeschraubt und dieses „Sunkist-Teil“ mit dem Kopf aufs Tor befördert. Wahrscheinlich hatte Guido Steuer, der heutige Hotelier aus Allenbach, den Einwurf präzise ausgeführt.

Von Herrn Deutschewitz, Rudi Michel, Tofik Bachramow und Gottfried Dienst

Der Torhüter der 3b gab alles, um den Ball (also diese komische Packung, die schon etwas geplättet war) zu erreichen. Er hatte aber keine Chance, denn das Ding schlug unhaltbar hinter der Linie ein – in etwa 2,80 Metern Höhe. Laut und sehr überzeugend habe ich „Toooor“ gejubelt und mich dann ebenso engagiert an der ewigen Diskussion beteiligt, die dann entstand. Die 3b wollte doch tatsächlich ein Phantomtor gesehen haben – obwohl sie nicht einmal den Ausdruck kannte. Ich hatte es aber genau beobachtet. Knapp unter die Latte, die nicht da war (wie hätte man sie auch über Jacken anbringen sollen?), war der Schachtel-Ball geflogen – vielleicht hatte er die Unterkante noch berührt.

Kommentator-Legende Rudi Michel hätte wie weiland 1966 im Wembleystadion ins Mikrofon gerufen: „Hei! Nicht im Tor! Kein Tor! Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? … Tor!“ Bei uns Schulbuben machte Herr Deutschewitz den Linienrichter. Er sprach ein Machtwort, machte wie 1966 Tofik Bachramow und dessen Schiedsrichter Gottried Dienst eine unzweideutige Handbewegung und erklärte seine 3a zum Sieger. Zumindest interpretierten wir sein lautes „Sportsfreunde, jetzt reicht’s. Sofort in die Klassen“ so.

Wenn die Netze wackeln

Herr Deutschewitz war sich sicher bewusst, welche Tragweite seine Entscheidung hatte. Bestimmt hatte er auch das Netz wackeln sehen. So, wie Schiedsrichter „Ernie“ Karsch am Sonntag in Fischbach. Oder so, wie Bundespräsident Heinrich Lübke 1966. Nachdem die deutsche Nationalmannschaft das Phantomtor aller Phantomtore, eben das Wembley-Tor, kassiert hatte und deshalb nur Vizeweltmeister geworden war, erklärte Lübke Bundestrainer Helmut Schön, er habe „den Ball im Netz zappeln sehen“, woraufhin der erwiderte: „Haben Sie das vielleicht mit einem Tor bei einem anderen Spiel verwechselt, Herr Präsident?“ Da wurde Lübke energisch: „Nein, in dem Moment habe ich ganz genau hingesehen, ich habe das genau in Erinnerung.“ Schön soll daraufhin kopfschüttelnd und zerknirscht das Weite gesucht haben.

Mit Phantomtoren ist es halt so eine Sache. Man muss souverän mit ihnen umgehen, oder man steckt mit seinen Stollenschuhen in Kopfhöhe in einer Kabinentür. So ist es mir 2001 ergangen, nachdem Thorsten Stampfer Sekunden vor dem Pausenpfiff einen Freistoß der TuS Koblenz im Haag auf mein Gehäuse des SC Idar-Oberstein gezirkelt hatte.

Die Parade, die Schiri-Entscheidung und Joachim Kohlhaas

Ich war gesprungen, ich war geflogen, ich war gehechtet und ich hatte mich gestreckt. Ich hatte die Finger an den Ball bekommen und ihn um den Pfosten gelenkt – eine Monsterparade! Und während ich mich selbst eine Runde abgefeiert habe, entschied das Gespann plötzlich auf „Tor für Koblenz“. Und weil ich Gegentore ungefähr so sehr gemocht habe wie Grünkohl mit Pinkel und Spinatsoße, hab ich mich etwas echauffiert. Und noch ein bisschen mehr, als mir der damalige NZ-Berichterstatter Joachim Kohlhaas, der früher auch noch mein Torwarttrainer war, auf meinem Weg in die Kabine mit nüchternem Journalistenblick mitteilte, dass der Ball klar drin gewesen sei.

Der gute Joachim Kohlhaas wollte mich eigentlich beruhigen, aber das klappte nur so semi. Wutschnaubend bin ich die Treppe im Haag zur Kabine hochgerannt und habe in die Tür von Kabine 2 getreten – in Kopfhöhe. Die Strafe kam prompt. Die Tür ließ sich die Behandlung nicht gefallen und hat mich festgehalten – mit meinen Alustollen habe ich in ihr festgesteckt. Die Anstrengung, mich aus dieser fordernden Lage zu befreien, hat mich dann so ermüdet, dass die Wut weg war. Und das Phantomtor der Koblenzer zählte noch immer.

Womit wir den Phantomtorkomplex mit der Frage abschließen: Wie geht es der Kabinentür in Fischbach? Wenn sie noch heil ist, dann sind die „Eulen“ deutlich souveräner mit dem Phantomgegentor umgegangen als ich bei meiner peinlichen Aktion im Haag vor beinahe einem Vierteljahrhundert. Und in weiteren 25 Jahren werden sie von jenem legendären Tag erzählen, als es in Fischbach ein Tor gegeben hat, das keins war. Anders als die allermeisten anderen Tore bleiben Phantomtore nämlich quasi ewig in Erinnerung...

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