Nachspielzeit von Sascha Nicolay
Drehen wir die (Spiel-)zeit zwei Monate nach vorne, in den November. Gerade haben die Rückspiele der Hauptrunde angefangen, und es kristallisieren sich die wichtigsten Entscheidungen heraus. Aber es ist eben auch kein Sommerwetter draußen, keine angenehmen Gradzahlen und es ist nicht niederschlagsfrei. Draußen herrschen unangenehme fünf Grad, es regnet leicht und der Wind pfeift. Training ist trotzdem, schließlich sollen die Spieler ja allerbestens vorbereitet in die Partien gehen. Wie in vielen Hygienekonzepten vorgesehen, kommen die Spieler umgezogen zum Trainingsgelände, sie meiden die Kabine. Das Training beginnt, die Spieler sind mit Feuereifer bei der Sache. Irgendwann ist das Training vorbei. Die Spieler sind geschwitzt, und sie merken jetzt, wie kalt der Wind eigentlich ist, wie unangenehm nassfeucht die Kleider sind. Normalerweise ginge es jetzt in die Kabine und es würde heißen, raus aus dem Klamotten und unter die heiße Dusche. Doch so einfach und schnell geht das gerade in Corona-Zeiten nicht. In engen Kabinen und in Duschen herrscht allerhöchste Infektionsgefahr. Das ist übrigens unstrittig. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Spieler fahren sofort nach Hause oder sie duschen nach und nach unter Einhaltung der Abstandsregeln. Wenn es ganz richtig gemacht wird, dann sollte nach jedem Duschgang, den vielleicht zwei Spieler nutzen können, ordentlich gelüftet werden – eine Viertelstunde lang.
Blöd übrigens, wenn die baulichen Voraussetzungen der Sportheime zum vernünftigen Lüften nicht gegeben sind, wenn es, wie zum Beispiel in Kempfeld in der Dusche kein Fenster gibt. Doch das nur nebenbei. Auf jeden Fall vergeht Zeit, bis alle Spieler schnell aus den feuchten Kleidern herauskommen und geduscht sind. Zeit, in der Erkältungen zuzuschlagen pflegen.
Einen Tag nach dem Training (vielleicht sind es auch zwei) meldet sich beim Übungsleiter ein Spieler. Gut möglich übrigens, dass auch zwei oder drei vorstellig werden. „Hey Coach, mir geht's nicht so gut. Meine Nase ist zu, ich muss husten und mein Hals tut weh.“ Normalerweise würde der Trainer seinem Akteur jetzt „gute Besserung“ wünschen, ihm vielleicht ein altes Hausmittel, zum Beispiel warmes Bier, empfehlen und ihn von der nächsten Übungseinheit befreien. Außerdem würde der Trainer hoffen, dass der Spieler bis Sonntag wieder auf den Beinen ist, um im Kampf um Platz vier alles für den Verein geben zu können. So in etwa wäre es normalerweise.
Aber wir spielen gerade nicht „normal“ Fußball. Wir kicken während einer Pandemie, während der Coronakrise. Deshalb läuten die Alarmglocken jetzt Sturm beim Trainer. Er hat die diversen Hygieneverordnungen und -empfehlungen im Kopf, er weiß, dass bestimmte Symptome auf Corona schließen lassen könnten. Halsweh und trockener Husten gehören ganz eindeutig dazu, werden explizit in der Hygieneverordnung der Verbände genannt. Vom Telefon aus ist es natürlich schwer zu unterscheiden, ob der Spieler jetzt gerade trocken oder feucht bis nass hustet, deshalb geht der Trainer sicherheitshalber (und um es klar zu sagen, auch korrekterweise) von trockenem Husten aus. Außerdem hat der Spieler ja Halsschmerzen. Eigentlich ist sich der Trainer zwar sicher, dass sein Spieler sich eine Erkältung eingefangen hat, aber es besteht einfach auch die Möglichkeit, dass das Halsweh und der als „trocken“ gewertete Husten Anzeichen für eine Infektion mit dem Coronavirus sind. Es besteht also Corona-Verdacht!
Was nun zu folgen hat, ist in der Spielordnung klar geregelt, und jeder Verantwortliche eines Vereins sollte sich daran auch halten. Der Trainer muss seinen Staffelleiter informieren. Und der Staffelleiter wiederum wird das am Sonntag geplante Spiel – sagen wir in der A-Klasse – absetzen. Zehn Minuten später meldet sich beim Staffelleiter der nächste Coach oder Fußball-Abteilungsleiter mit den gleichen Problemen, ebenfalls mit einem als Corona-Verdachtsfall zu identifizierenden Patienten, und schon muss das nächste Spiel abgesetzt werden. Das gleiche passiert in den drei B-Klasse-Staffeln, der Verbandsliga, der C-Klasse-Staffel 2 und in der Bezirksliga. Und das Woche für Woche bis in den Frühling hinein. Bis dahin herrscht freilich totales Terminchaos. Die Flut der Nachholspiele hat Tsunamiausmaße und ist eigentlich nur noch zu bewältigen, wenn es eine Englische Woche nach der anderen gibt oder wenn die geplanten Meister- beziehungsweise Abstiegsrunden abgesetzt werden, um zumindest die Hauptrunde bis in den Juni 2021 noch fertig spielen zu können.
Um es noch einmal klar zu sagen – die Verantwortlichen in den Vereinen und die Staffelleiter können gar nicht anders als zu handeln wie beschrieben, wenn sie verantwortungsvoll mit Corona umgehen. Oder Trainer trauen sich zu, zu entscheiden, dass der Spieler, der sich gemeldet hat, tatsächlich nur erkältet und nicht mit Corona infiziert ist. Aber wehe, einer dieser Coaches liegt falsch.
Dann wird sich in Windeseile herumsprechen, dass in Verein XY eine Corona-Erkrankung aufgetreten ist, weil der Trainer klare Symptome ignoriert hat. Auf den Verein und vielleicht sogar den betreffenden Coach wird mit dem Finger gezeigt werden. Der Klub und sein Trainer werden die Schuld daran tragen, dass sich womöglich gleich mehrere Spieler infiziert haben, dass gegnerische Spieler in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass für eine Vielzahl von Personen viele Tage Quarantäne angeordnet wurde, dass Arbeitgeber deshalb mit Jobverlust drohen und dass die Fußball-Skeptiker sich bestätigt fühlen und sagen, „das kommt davon, wenn man den Fußballern eine Extrawurst brät“.
Weil die meisten genau dieses Risiko nicht eingehen wollen, weil sie sich richtig verhalten wollen, weil sie verantwortungsbewusst handeln wollen, werden bald ständig Spiele abgesetzt werden. In den allermeisten Fällen wird sich herausstellen, dass der betroffene Spieler „negativ“ war, also kein Corona hatte, aber es wird immer schwieriger werden, Termine für Neuansetzungen zu finden. Das wird dann auch ein Grund für Wettbewerbsverzerrungen sein, denn Spiele, die neu angesetzt werden, finden oft unter der Woche statt. Also dann, wenn es für Amateurvereine ungleich schwieriger als am Wochenende ist, eine schlagkräftige Mannschaft zusammenzubekommen.
Den zweiten Anlass zur Wettbewerbsverzerrung werden übrigens die Vereine selber liefern. Es wäre nämlich schon sehr überraschend, wenn alle Klubs der Versuchung widerstehen würden, Corona zu nutzen, um ein Spiel nicht stattfinden zu lassen, dass gerade nicht gelegen kommt. Zum Beispiel, weil zwei Akteure beruflich verhindert sind, zwei sich leicht gezerrt haben, ein weiterer einen unaufschiebbaren Termin hat oder der 70. Geburtstag von Großtante Amalie gefeiert werden muss. Ein Anruf beim Staffelleiter, eine kurze dramatische Schilderung des Halskratzens und des schlimmen Hustenanfalls beim Innenverteidiger reichen, um die Partie an diesem unpassenden Tag ausfallen zu lassen.
Zusammengefasst lässt der Blick in die Glaskugel für den Amateurfußball höchst problematische Zeiten befürchten, und er lässt auch den Schluss zu, dass diese Saison wohl nicht wie erhofft zu Ende gespielt werden wird. Gerade das vergangene, recht ruhige Wochenende, hat den Fingerzeig für diese Prophezeiung geliefert.
Aber vielleicht tröstet es uns Fußballer, dass Glaskugeln höchst unsichere Vorhersageinstrumente sind, dass Auguren meist Scharlatane und Seher selten tatsächlich hellsichtig sind. Vielleicht haben die Fußballer im Kreis Birkenfeld ja Glück, und ihnen steht eine extrem glimpfliche Erkältungszeit bevor, weil der Klimawandel für angenehmes Frühlingswetter selbst von November bis März sorgt – oder die Sorgen wegen des Coronavirus lösen sich eben doch einfach in Luft auf.
E-Mail an den Autor: sascha. nicolay@rhein-zeitung.net