„Unglaublich“, habe ich gedacht und mein Wissen schnell mit dem Fußball-Abteilungsleiter der Spvgg Wildenburg geteilt. Der schaute mich an komplett fassungslos an und meinte: „Ich habe vor 20 Minuten auf mein Handy geschaut – und da hat Idar noch 1:6 hinten gelegen...
Fünf Tore aufgeholt in 26 Minuten bei 30 Grad Hitze
Michael Rodenbusch muss lachen, als ich ihm die Anekdote am Tag darauf erzähle. „Ich habe bestimmt 50 Nachrichten unmittelbar nach dem Spiel bekommen – und gleich in mehreren haben sich die Absender um meinen Gesundheitszustand Sorgen gemacht. Aber ich bin stabil“, sagt der Coach des SC Idar-Oberstein II und meint: „Ich bin seit Jahrzehnten Trainer und habe vorher auch lange gespielt. Aber ich kann mich an etwas Ähnliches nicht erinnern.“ Nun hat Rodenbusch, wie alle, die lange im Fußball dabei sind, zweifellos mehrere großartige Aufholjagden erlebt. Zwei Tore, drei Tore Rückstand sind in seiner Laufbahn sicher mehrfach umgebogen worden. Aber fünf? Und das in 26 Minuten? „Und bei 30 Grad Hitze“, ergänzt „Turbo“ lachend.
Natürlich habe ich in meinem Gedächtnis gekramt, ein paar Jährchen im Fußball habe ich schließlich auch auf dem Buckel. Und tatsächlich habe im Moebus-Stadion in Bad Kreuznach auf dem Platz gestanden, als der SC Idar-Oberstein bei Eintracht Bad Kreuznach eine 3:0-Führung verspielt hat, obwohl er zwei Mann mehr auf dem Feld hatte. 5:3 gewann die Kreuznacher Eintracht im April 2005. Außerdem habe ich habe ja schließlich mal beim SV Niederwörresbach gekickt, einem Spezialisten für Spektakel und Dramen in beide Richtungen. Doch mehr als jenes legendäre 5:5 im Jahr 1990, als die Niederwörresbacher unter Trainer Michael Dusek nach 5:2-Pausenführung gegen den FC Berglangenbach den Aufstieg in die Landesliga verspielt haben, ist mir selbst bei diesem Klub nicht eingefallen.
Der FCK hat gegen Meppen mal beinahe ein 6:2 verspielt
Also habe ich den Rahmen weiter gefasst, bin gedanklich in den „großen“ Fußball gewechselt. 7:6 – da war doch mal was. Richtig! 1997 war der 1. FC Kaiserslautern schon Meister der Zweiten Bundesliga, als der SV Meppen am letzten Spieltag auf dem Betzenberg aufkreuzte. Diese Partie endete tatsächlich auch 7:6, und der von Otto Rehhagel trainierte FCK führte – unter anderem durch jeweils zwei Treffer der späteren Trainer des SC Idar, Olaf Marschall und Thomas Riedl, – bereits 6:2 und 7:3. Die Lauterer waren drauf und dran, die Führung zu verspielen. Aber erstens taten sie es nicht, und zweitens hatten sie – anders als die TSG Planig – nur vier Tore Vorsprung.
Tatsächlich ist mir trotz längeren Nachdenkens und ausgiebiger Recherche kein Spiel eingefallen, in dem eine Mannschaft einen Fünf-Tore-Rückstand noch in einen Sieg umgewandelt hätte. In der Bundesliga gelang überhaupt nur einmal in 61 Jahren eine komplette Wende nach einem Rückstand von mehr als drei Treffern.
Bayern gewinnt vor 48 Jahren in Bochum 6:5
Dieses größte aller Bundesliga-Comebacks innerhalb von 90 Minuten feierte vor ziemlich genau 48 Jahren der FC Bayern München. Beim VfL Bochum lagen Franz Beckenbauer und Co bis zur 55. Minute 0:4 hinten (Für VfL-Junkies: Die Bochumer Torschützen bis dahin waren Harry Ellbracht (2), Josef Kaczor und Hans-Joachim Pochstein). Dann traf „Kalle“ Rummenigge zum 1:4, und „Katsche“ Schwarzenbeck, Gerd Müller mit einem Doppelpack sowie Uli Hoeneß machten binnen 20 Minuten eine 5:4-Führung für die Bayern daraus. Kaczor glich noch einmal zum 5:5 aus, ehe Uli Hoeneß den Deckel zum bajuwarischen 6:5-Sieg draufmachte.
Ohne Zweifel war das wohl ein höchst spektakuläres Spiel, aber doch fast ein Kindergeburtstag im Vergleich zu dem, was sich am Sonntag auf dem neuen Kunstrasen hinter der Sitzplatztribüne des Haag-Stadions zutrug. „Dafür gibt es keine logische Erklärung“, betont Rodenbusch und verrät: „Für mich sah es so aus, als würde die Partie für uns so laufen wie bisher immer sonntags in dieser Runde.“
Nur ein Tor in Durchgang eins
Einmal mehr vergab der SC Idar-Oberstein II gegen die TSG Planig nämlich in den ersten 45 Minuten Chance um Chance und steckte zur Strafe hinten das 0:1 ein. „In der Pause habe ich gedacht, dass wir jetzt aufpassen müssten, nicht das 0:2 zu bekommen. Ich habe die Mannschaft auch gewarnt, habe ihr aber vor allem gesagt: 'Jetzt gehen wir raus und machen die Dinger einfach mal weg'“, erinnert sich Rodenbusch. Ziemlich fassungslos erlebte der Trainer, die folgenden Minuten. „Wir sind rausgegangen und haben uns einfach mal drei Tore eingefangen.“
0:4 lag der SC hinten, als Noah Thees per Elfmeter auf 1:4 verkürzte. 57 Minuten waren da gespielt. „Da denkst du schon, dass noch was gehen könnte“, sagt Rodenbusch. Fünf Minuten später war aber kein weiterer Anschlusstreffer gefallen, sondern Planig auf 6:1 davongezogen. Uneinholbar, wie wohl jeder der offiziell gerade einmal 40 Zuschauer im Haag dachte. Und auch Michael Rodenbusch verschwendete jetzt erst einmal keinen Gedanken mehr an eine Aufholjagd. „Bei mir draußen ist erst einmal der Kopf runter gegangen“, gibt er zu und ergänzt: „Mein erster Gedanke war, die Mannschaft anzuweisen, jetzt mal hinten dicht zu machen, damit es nicht noch schlimmer kommt.“ Rodenbusch war noch am Grübeln, da gelang Christian Zizak das 2:6. 64 Minuten waren da vorbei, und es gab eine Trinkpause.
Er war ganz wichtig. Er hat Leben und eben Ideen ins Spiel gebracht
Michael Rodenbusch über Christian Zizak
„So richtig geglaubt an eine Wende habe ich immer noch nicht“, räumt Rodenbusch ein. Seiner Mannschaft sagte er: „Macht mal weiter.“ 18 Minuten vor Schluss fiel das 3:6. Wieder war Zizak der Schütze. Lange war der Edeltechniker, der nicht selten leicht verrückte Ideen hat, verletzt gewesen. Doch seit der 40. Minute stand er wieder auf dem Feld, war für Stephan Holländer eingewechselt worden. Und dass ausgerechnet Zizak einen Doppelpack zum 3:6 schnürte, kam nicht von ungefähr. „Er war ganz wichtig. Er hat Leben und eben Ideen ins Spiel gebracht“, lobt Rodenbusch, der im Haag miterlebte, wie seine Mannschaft merkte, dass diese Partie noch nicht verloren war.
TSG Planig ohne Sicherung
„Die Hitze war bestimmt ein Faktor“, glaubt Rodenbusch, der festhält: „Wir waren zweifellos fitter.“ Zudem stellte der Coach einigermaßen erstaunt fest, dass die TSG Planig, ein fußballerisch ausgesprochen gutes Team, ihr Spiel nicht umstellte. „Ich habe draußen gewartet, dass sie sich hinten reinstellen, dass sie in den Verteidigungsmodus gehen, dass sie die Bälle rausprügeln, aber das ist nicht passiert“, schildert Rodenbusch die Geschehnisse und fügt hinzu: „Die schienen gar nicht auf den Gedanken zu kommen, eine Sicherung einzubauen.“ Tatsächlich agierte die TSG Planig defensiv weiter ziemlich offen – und spielte den Idarern damit in die Karten. Yasar Albarak traf in der 74. Minute zum 4:6. „Auf einmal war der Knoten geplatzt, auf einmal sind die Dinger ins Tor gegangen“, erzählt Rodenbusch.
Bei Kevin Gardlowski platzt der Knoten
Sinnbildlich für diesen geplatzten Knoten stand sicher Kevin Gardlowski. Der Angreifer hat über Jahre im Jugendbereich gezeigt, dass er über einen richtigen Torriecher verfügt. Doch bis zur 78. Minute gegen Planig hatte er im Männerbereich Ladehemmung. „Der Junge war ja schon am Verzweifeln“, sagt Rodenbusch. „Auch gegen Planig hat er in der ersten Halbzeit beste Chancen gehabt, aber nicht getroffen.“ Doch in dieser 78. Minute landete ein Gardlowski-Abschluss endlich im Tor – 5:6. Und dann ließ es das Torjägertalent so richtig krachen. Acht Minuten später hatte er zwei weitere Male zugeschlagen, einen lupenreinen Hochgeschwindigkeits-Hattrick erzielt und den SC Idar-Oberstein II zum 7:6-Sieg geschossen.
Wenn er gewusst hätte, dass ausgerechnet sein Trainer ernsthaft darüber nachgedacht hatte, ihn daran zu hindern... Rodenbusch muss wieder lachen, als er verrät: „Als Kevin das 6:6 gemacht hat, da war ich innerlich echt froh. Nach einem Fünf-Tore-Rückstand gleicht man schließlich nicht alle Tage aus. Ich habe also tatsächlich kurz überlegt, ob ich die Mannschaft bremsen, ob sie ich anweisen soll, mit diesem 6:6 zufrieden zu sein. Ich hab's aber laufen lassen.“ Eine goldrichtige Entscheidung. „Die Jungs waren jetzt im Flow, waren geil drauf, das Ding komplett zu biegen“, erklärt Rodenbusch.
Der SC Idar-Oberstein II bog „das Ding“ und sein Trainer war nur noch stolz auf die Mannschaft: „Hut ab vor den Jungs. Das war einfach klasse“, sagt er, ohne dabei einen Akteur zu vergessen, der ihm „richtig leid getan“ habe. „Unser Torwart Christoph Grimm, der ja in der Oberliga-Mannschaft Back-up ist, sollte mal ein bisschen Spielpraxis sammeln. Er hat sechs Stück kassiert, ohne was machen zu können.“
Rodenbusch ist stolz auf sein Team
Dass das Team diesen 1:6-Rückstand dann aber noch umbog, bezeichnet Rodenbusch als „ganz, ganz wichtig“. Der Trainer erklärt: „Wir haben ja in den vergangenen Wochen selten schlecht gespielt, aber die Jungs haben wegen der vielen vergebenen Chancen angefangen, zu zweifeln. Jetzt steht da mit einem Schlag eine Truppe, die wieder an sich glaubt.“
Doch wenn man es sich richtig überlegt, dann war der SC Idar-Oberstein II die logische Mannschaft für eine der gewaltigsten Aufholjagden, die es in Fußball-Deutschland auf überkreislichem Niveau gegeben hat. Man kann so etwas erwarten, von einem Team, dessen Trainer auf den Namen „Turbo“ hört – denn turbomäßig waren jene 26 Minuten im Haag, aus denen aus einem 1:6-Rückstand ein 7:6-Sieg geworden ist und die alle Fußballfreunde im Kreis Birkenfeld staunen ließen.
E-Mail: sascha.nicolay@rhein-zeitung.net