Sport verbindet, und Sport schreibt Geschichten. Geschichten, die sich nicht nur um das Sportliche auf den Plätzen, in Hallen oder in Schwimmbädern drehen. Nein, es sind Geschichten, die über das sportliche Geschehen hinaus gehen. Sie sind es, die die Menschen noch stärker miteinander verbinden, ihnen Kraft geben und Mut machen – in guten Zeiten, aber vor allem auch in schlechten.
Eine solche Geschichte beginnt auch am 6. Juli 2018 im Westerwald. Es ist die Geschichte des damals 18-jährigen Philipp Kulis, der in der A-Jugend der EGC Wirges Fußball spielt und bei einem Verkehrsunfall auf der L 304 zwischen Selters und Ellenhausen schwerste innere Verletzungen erleidet. Was folgt, zeigt, welche Kraft der Sport, in diesem Fall der Fußball, fernab von Ergebnissen auf dem Platz, entwickeln kann.
Der Rückblick zeigt eine von vielen geschriebenen Geschichten des Fußballs, die jegliche Rivalität in den Hintergrund treten lässt. Sport verbindet nun Mal. In der Geschichte des jungen Mannes aus Wirges ist der Fußball im Westerwald eine große Gemeinschaft, das zeigt sich nach dem Unfall. Philipps damaliger Trainer ruft zusammen mit der EGC eine Aktion ins Leben, deren Name die Fußballer und viele andere Menschen in der Region mobilisiert. „Philipp kämpft... und die EGC-Familie kämpft mit“ – dieser Slogan wird auf große Banner gedruckt und zum Motto der folgenden Wochen.
Die unfassbare Summe von 26.000 Euro kommt letztlich auf dem von Philipps Trainer Serkan Öztürk angelegten Spendenkonto zusammen. Die Fußballer und Menschen aus der Region haben gesammelt, um damit den schwer verletzten Jungen aus Wirges zu unterstützen. Der Westerwälder Fußball ist in diesen Wochen eine große Gemeinschaft, die ihre Kräfte bündelt.
Der Weg führt zum CP-Fußball
Nach 154 Tagen in der Klinik war Philipp wieder zurück zu Hause und ging fortan drei Mal pro Woche zur Reha und arbeitete hart daran, wieder aufzubauen, was sein Körper verloren hat.
Mehr als viereinhalb Jahre sind nun seit dem Unfall vergangen. Seiner großen Leidenschaft, die ihm all die Jahre und vor allem in den schwierigsten Monaten nach dem Unfall Kraft gegeben hat, dem Fußballspielen, geht der junge Mann wieder nach. Und zwar in einer neuen Gemeinschaft. Die der CP-Fußballer. International unter „Football 7-a-Side“ bekannt, ist der CP-Fußball eine Sportart für Menschen mit einer Hirnschädigung und daraus resultierenden Bewegungsstörungen. Bis 2016 war es sogar eine paralympische Sportart. In Deutschland befindet sie sich derzeit noch im Aufbau.
Ein allgemeines Klassifizierungssystem, das von der CPISRA (Cerebral Palsy International Sports an Recreation Association), dem Dachverband für Sportler mit cerebralen Bewegungsstörungen, entwickelt wurde, teilt die Spieler in drei Kategorien ein. Spielberechtigt sind demnach Sportler mit Zerebralparesen gemäß der CPISRA-Startklassen FT1 (stärker körperlich beeinträchtigt), FT2 und FT3 (minimal körperlich beeinträchtigt).
Stets muss im Spiel pro Mannschaft mindestens ein FT1-Spieler auf dem Platz stehen. Ist dies nicht der Fall, muss das Team mit sechs Akteuren antreten. Aus der Kategorie FT3 darf nur ein Spieler auf dem Platz stehen. So soll erreicht werden, dass möglichst vergleichbare körperliche Ausgangsbedingungen der Teams vorliegen und alle – insbesondere auch die körperlich schwächeren beziehungsweise stärker beeinträchtigten – Athleten Einsatzzeiten erhalten.
„Mein damaliger Trainer Serkan hat mir von dieser Mannschaft erzählt“, erinnert sich Kulis heute, kurz vor Weihnachten 2022 – tags zuvor besiegt Argentinien den Titelverteidiger Frankreich im Finale der WM – an die Anfänge in der weniger bekannten Form des Fußballs. „Dadurch bin ich dann zum CP-Fußball gekommen.“ Und Philipp lässt gleich seine Klasse aufblitzen. In den Lehrgängen empfiehlt sich der junge Fußballer, der nach ersten Testungen der Startklasse FT2 zugewiesen ist, für mehr. Die CP-WM in Spanien im Frühsommer diesen Jahres bleibt sein Fernziel. Und tatsächlich, nach einem letzten Lehrgang „im tiefsten Bayern“, so Kulis, wird er nominiert. „Dann ging es los nach Spanien. Vom 1. bis 15. Mai lief das Turnier“, erinnert er sich.
Philipps Auftritt bei der CP-WM
15 Mannschaften nehmen an dem Turnier teil, Deutschland muss in der Gruppenphase gegen Irland, Brasilien und Thailand antreten. Im ersten Gruppenspiel gegen Irland steht Philipp von Beginn an auf dem Platz. Deutschland verliert mit 0:2. Auch gegen Brasilien im zweiten Gruppenspiel haben Philipp und seine Mitspieler das Nachsehen (0:6). Da Irland kurz darauf Thailand schlägt, ist klar, dass es nur noch in die Platzierungsspiele geht. Immerhin gewinnt die Mannschaft von Nationaltrainer Conny Frank Fritsch das dritte Gruppenspiel gegen Thailand (2:1) und spielt somit um Platz neun.
In den Platzierungsspielen verliert die deutsche Mannschaft zunächst knapp im Elfmeterschießen gegen Spanien und dann gegen Australien (1:2). Somit steht am Ende ein zwölfter Platz für Deutschland. „Es war eine schöne Erfahrung“, geht es Philipp nicht mehr nur ums Gewinnen. Den Sieg holt sich die Ukraine im Finalspiel gegen den Iran, Deutschlands Gruppengegner Brasilien wird Dritter.
Auch der Erzrivale denkt an Philipp
154 Tage liegt der Westerwälder Philipp Kulis nach einem Verkehrsunfall in einer Kölner Klinik, 87 Tage davon auf der Intensivstation. Nach 30 Operationen haben die Eltern aufgehört zu zählen. Auch als er auf eine normale Station verlegt wird, wieder spricht, das Gehen neu lernt und am Leben in der Klinik von Tag zu Tag mehr teilhaben kann, ist die Erinnerung noch ausgeschaltet. Philipp ist da – aber irgendwie auch nicht. An die Wände im Krankenhauszimmer hängt die Familie Fußballtrikots. Das von Borussia Dortmund, das der kroatischen Nationalmannschaft, das der EGC Wirges und das der Eisbachtaler Sportfreunde. Nach einem Freundschaftsspiel beider Teams haben die Spieler des Westerwälder Erzrivalen auf einem ihrer Trikots unterschrieben und es den Wirgesern für Philipp mitgegeben
„Mannschaften wie die Ukraine oder Brasilien sind sehr stark. Mit meiner damaligen Wirgeser Mannschaft würden wir, denke ich, verlieren. Die Jungs haben schon was drauf, die haben auch früher schon im normalen Fußball gut gespielt“, schätzt der Westerwälder CP-Fußballer ein. Kulis fühlt sich wohl im Kreise der Nationalmannschaft. „Die nächsten Lehrgänge stehen an“, dort will sich der 22-Jährige weiter für einen Platz in der deutschen Auswahl empfehlen. „Die Bedingungen sind top. Betreuer, ein Mannschaftsarzt, Physiotherapeuten, wir haben alles da – wie in einer Profimannschaft“, schwärmt er von seiner neuen Gemeinschaft.
Im kommenden Jahr steht erst einmal ein „Review“ auf dem Programm. Dort wird untersucht, in welcher Startklasse Philipp fortan kategorisiert wird. „Es wird wieder die FT2 oder sogar FT3 sein. Wenn es FT3 werden sollte, ist es natürlich schwieriger, in die Mannschaft zu kommen, denn da darf ja immer nur einer spielen“, hält der derzeitige FT2-Spieler fest. Der CP-Nationalspieler ist weiterhin motiviert, seine eigene Geschichte für Deutschland weiterzuschreiben. Eine Geschichte, die im Sommer 2018 begann und aus der er auch mithilfe der großen Westerwälder Fußball-Gemeinschaft gestärkt hervorgekommen ist.
Zum Abschluss hat er noch eine wichtige Botschaft mitzugeben: „Bevor die Leute den Eindruck haben, CP-Fußball sei doch 'nur' Behindertensport, denen würde ich empfehlen, sich das ganze erst einmal selbst anzuschauen.“
Eines lässt sich an Philipps Geschichte festhalten: Wenn jemand diesen eingeforderten Respekt umsetzen kann, dann doch die große Gemeinschaft im Fußball. Denn nicht nur dieses Beispiel zeigt: Sport verbindet.