Wenn man sich mit Niklas Levinsohn zum Fußballschauen trifft, kann es durchaus vorkommen, dass er sich danach noch mal zu Hause das Spiel in aller Ruhe anguckt. Er muss dann auch mal „Pause” drücken, zurückspulen, Laufwege begutachten oder Pass-Stafetten analysieren, erzählt er.
Man kennt sowas vom verwirrenden Gekringel aus den Halbzeit-Plaudereien der TV-Sender. Nur, dass Niklas Levinsohn aus Brohl-Lützing (Verbandsgemeinde Bad Breisig) eben nicht von „Sky” bezahlt wird. Sondern mit Freunden seine eigenen Firmen gegründet hat und es besser machen will als die Etablierten.
Mit „Calcio Berlin” und „50+2” auf Sendung
Levinsohn ist als Fußball-Fachmann mit dem Kanal „Calcio Berlin” und dem Podcast „50+2” selbstständig. Dafür hat der 31-Jährige aus dem Kreis Ahrweiler sogar eine Festanstellung im Medienbereich hingeschmissen.
Und während sowieso schon 24/7 auf allen Sendern und Kanälen Fußball läuft, gehen Niklas Levinsohn, Nico Heymer und Christoph Kröger nun also auf eigene Rechnung fast täglich mit einer Mischung aus Statistik-Liebhaberei und Entertainment auf Sendung. Kann das gutgehen?
Der Anti-Schweinsteiger
Nach den ersten Paar Saisons sieht der Spielstand jedenfalls beachtlich aus: Rund 200.000 Abonnenten hat „Calcio Berlin” auf YouTube, 81.000 auf der Streaming-Plattform Twitch und 60.000 auf Instagram – genau wie das Twitter-Profil von Niklas Levinsohn. Man könnte sagen: Die Ergebnisse stimmen. Und das hat wohl auch mit dem unverstellten Stil zu tun, den einer wie Levinsohn verkörpert.
Während die üblichen Experten am Seitenrand im Fernsehen zwar mit einer eigenen Bundesligakarriere beglaubigt sind, ihre Erklärungen aber meistens darauf hinauslaufen, dass die Verlierer mal besser ein Tor mehr geschossen hätten, macht es Niklas Levinsohn gewissermaßen wie eine Art Anti-Schweinsteiger: Selbst hat es auf dem Rasen bestenfalls mittelmäßig geklappt –auf manchem Spielberichtsbogen aus der Kreisliga D tauchte er unter seinem Geburtsnamen Niklas Helbach als Torschütze auf – dafür sucht er in seinen Analysen die Tiefe des Raumes.
„2,47 schusserzeugende Aktionen pro Spiel”
Wenn Levinsohn beispielsweise mit seinem Podcast-Kollegen Nico Heymer den Bundesligaspieltag bespricht, geht es schnell mal um „non penalty expected goals against” der Bayern, den PPDA-Wert von Union oder die 2,47 schusserzeugenden Aktionen pro Spiel von Marvin Mehlem. Lothar Matthäus hört man so nicht reden.
Glossar
Expected Goals: Der sogenannte xG-Wert (expected goals, „erwartete Tore”) gibt an, wie Wahrscheinlich der Torerfolg statistisch ist. Der Zusatz „non penalty” heißt, die Elfmeter wurden herausgerechnet.
PPDA: Passes per defensive action (Pässe pro Defensivaktion): Die Zahl der Pässe, die eine verteidigende Mannschaft zulässt, bis es zu einem Zweikampf oder Foul kommt. Es handelt sich also um einen Wert, der die Intensität des Pressings beschreibt.
Was zwar umständlich klingt, wirkt bei Levinsohn und Kollegen indes nicht oberlehrerhaft. Denn ihre Formate scheuen auch die kumpeligen Witze, nostalgischen Vergleiche oder persönlichen Anekdoten der personalisierten Social-Media-Welt keineswegs. Die Sprache der Laptoptrainer vermengt sich so mit dem Habitus von Laberpodcasts.
„Unser Ansatz ist, das ideale Gespräch über Fußball, wie es auch im privaten Kontext sein sollte, im Podcast zu erzeugen”, sagt Levinsohn im Interview mit der Rhein-Zeitung. Das muss für sie Spaß machen und sich an den Aufregern oder Scharmützeln eines Spieltags abarbeiten, aber dabei immer wieder auf eine faktenbasierte Ebene zurückkommen.
Mit dem Scout bei der A-Jugend
Dass die Sachkenntnis als Geschäftsgrundlage von „Calcio Berlin” nicht von Ungefähr kommt, skizziert Levinsohn im Gespräch mit unserer Zeitung. Als Kind verfällt er dem 1. FC Kaiserslautern, zuletzt nicht immer in der Feinkostabteilung des Fußballsports unterwegs. Aber in professioneller Hinsicht bildet sich Levinsohn stets weiter. Mit einem befreundeten Talentscout bereiste Levinsohn Spiele ambitionierter Junioren, erlebte Bundestrainer Julian Nagelsmann etwa noch als Hoffenheimer Nachwuchs-Coach.
Unser Ansatz ist, das ideale Gespräch über Fußball, wie es auch im privaten Kontext sein sollte, im Podcast zu erzeugen.
Fußball-Experte Niklas Levinsohn über seinen Analyse-Stil
Auf ein Studium der Medienwissenschaft und Englischer Literatur in Trier folgte unter anderem ein Praktikum beim Fachmagazin 11Freunde, wo Texte über Fußball auch mal ein Fremdwort enthalten dürfen.
Bei One Football rechtzeitig raus
Anschließend heuerte Levinsohn bei der Sport-App One Football als Schreiber an, produzierte dort festangestellt handliche Nachrichtenschnipsel. Und beschloss nach eher zufälligen Einsätzen vor der Kamera, mit den Mitstreitern Heymer und Kröger sein eigenes Ding aufzubauen.
Dabei sei man zwar „im Guten” aus dem sicheren Angestelltenverhältnis bei One Football ausgeschieden, wie Levinsohn betont. Bereut haben wird er es aber ohnehin nicht: Heute steckt One Football offenbar finanziell in Schwierigkeiten, laut „Handelsblatt” wurden womöglich Lizenzgebühren für Fußballübertragungen nicht vollständig bezahlt. Start-Up-Gründer Lucas von Cranach seilte sich nach 15 Jahren aus dem Betrieb ab.
Haifischbecken Fußball in den Medien
Das Beispiel zeigt eindrücklich: Der Fußball-Zirkus ist ein Milliarden-Markt, auf dem schon viele den Erfolg gesucht und mancher sich verhoben hat. Auch die einst angriffslustig gestartete Streaming-Plattform DAZN ist längst mehr für ihre wiederkehrenden Preiserhöhungen als ihre pfiffigen Kommentatoren bekannt. Und in diesem Haifischbecken wollen nun eine handvoll Kerle im Hoodie mit einem nerdigen YouTube-Channel bestehen?
„Im Vergleich zu klassichen Gründungen war es weniger riskant, da wir ja kein physisches Produkt und keine Produktionshallen haben. Wir brauchten also auch kein riesiges Startkapital”, erklärt Niklas Levinsohn das Kalkül. Jeder der vier Gründer von „Calcio Berlin” (neben den Moderatoren auch David Neumann) warf „ein paar Tausend Euro” für Mikrofone und Kameras in den Topf, die ersten Sendungen zeichnete man in Levinsohns Wohnzimmer auf.
Inzwischen hat das Team ein Studio und Büroräume in Berlin angemietet. Die Rechnung ist offenbar aufgegangen, mit Werbeeinblendungen bei Videos und Podcasts lässt sich ab einer gewissen Reichweite doch etwas mitnehmen. Levinsohns Podcast „50+2” wurde schon von einem Matratzenhersteller und Rasiergeräten für den Intimbereich gesponsert.
Wie viele Tore sind Haaland zuzutrauen?
Ob das nicht, bei aller Fußballvernarrtheit, auch ein bisschen verrückt sei, wollen wir am Ende von Niklas Levinsohn wissen. Wenn sein Podcast zur Bundesliga montags erscheint, sind die ersten Spiele drei Tage her, die Bilder und Highlights überall in Dauerschleife gelaufen. Und trotzdem wollen die Leute hören, was ein einstiger Hobbykicker dazu Schlaues zu sagen hat?
Als Erling Haaland damals zu Boruissa Dortmund wechselte, habe ich gesagt, es wäre schon gut, wenn er in der Rückrunde fünf Tore schafft.
Niklas Levinsohn über eine Prognose, aus der er gelernt hat.
„Die nutzen uns natürlich nicht als Ergebnisservice, das stimmt, aber sie sind interessiert an unseren Einordnungen.” Denn die liegen oft richtig, dank Detailtreue in den Statistiken und dem Bauchgefühl eines Fußball-Begeisterten. Den überraschenden Transfer von Nationalspieler Robin Gosens zu Union Berlin etwa hat Niklas Levinsohn frühzeitig vorhergesehen.
Und aus den Prognosen, die in die Hose gingen, hat er seine Schlüsse gezogen. „Als Erling Haaland damals zu Boruissa Dortmund wechselte, habe ich gesagt, es wäre schon gut, wenn er in der Rückrunde fünf Tore schafft. Er hat dann allein drei im ersten Spiel geschossen. Da habe ich gemerkt: Man muss auch nicht zu allem sofort eine starke Meinung haben”, sagt Levinsohn. Heute fuchst er sich akribisch in die Daten des Spiels herein, bevor er einen Tipp abgibt. Mit „Calcio Berlin” geht es seither immer weiter bergauf. Und Erling Haaland bricht längst in England alle Rekorde. Aber das sind natürlich nur Statistiken.
Auch im RZ-Podcast zu Gast
Niklas Levinsohn ist mit seinen Analysen auch Teil der aktuellen Folge RZInside, dem Podcast unserer Zeitung. In der Folge widmen sich Finn Holitzka und Lukas Erbelding den jüngsten Gewaltausbrüchen gegen Schiedsrichter – in unserer Region und international.
Zu Wort kommen Niklas Levinsohn, der Zweitliga-Unparteiische Patrick Kessel aus Norheim im Kreis Bad Kreuznach und Andreas Schmitz aus Idar-Oberstein, der nach 37 Jahren auf dem Platz die Schnauze voll hat. Hören können Sie den Podcast auf allen gängigen Plattformen wie Spotify oder direkt hier im Webplayer.