Von unserem Redakteur Andreas Hundhammer
Ingelbach. Was für gläubige Christen die Bibel ist, das ist für eingefleischte Fußballfans das Kicker-Sonderheft zur neuen Saison. Trotz Corona scheuten die Macher des gleichnamigen Sportmagazins auch in diesem Sommer keine Mühen und präsentierten ihrer Leserschaft Ende August ein 256 Seiten starkes Exemplar, das die Lage bei den 18 Bundesligisten, 18 Zweitligisten und 20 Drittligaklubs analysiert und einen reichlichen Schatz an Daten und Statistiken zu jedem Verein bereithält. Auch Max Rumpel wollte unbedingt eines davon haben. Dabei hatte es der Vierjährige allerdings nur auf eine ganz bestimmte Sache abgesehen: die kultige Stecktabelle. Sein Papa erfüllte ihm diesen Wunsch.
Während der Sohnemann also damit beschäftigt war, die 56 Vereinslogos auf alle Schlitze zu verteilen, blätterte Maik Rumpel das Heft durch und blieb beim Halleschen FC hängen. Auf dem Mannschaftsfoto erkannte er Mario Nickeleit, der beim Drittligisten die Funktion des Teamleiters innehat. Rumpel zögerte nicht lange, ließ seine Kontakte zu Halles Trainer Florian Schnorrenberg spielen, besorgte sich Nickeleits Nummer und rief seinen einstigen Teamkollegen an, mit dem er in den 1980er Jahren gemeinsam in der Jugend des Halleschen FC spielte.
Das Telefonat wird für Rumpel also auch eine kleine Reise in die Vergangenheit gewesen sein. Eine Vergangenheit, die für den 51-Jährigen nicht nur zeitlich in ziemlich weiter Ferne liegt, sondern auch geografisch. Dafür gesorgt hat ein Mann namens Rolf Brückner, der im Sommer 1990 zunächst fünf und ein Jahr später noch einmal zwei weitere Fußballer aus der ehemaligen DDR zum VfB Wissen lotste – und ihnen damit einen Weg ebnete, der ihr Leben grundlegend verändern sollte.
Der ehemalige Vorsitzende des VfB Wissen sei ein Fußballverrückter gewesen, erinnert sich Rumpel. Nur wenige Wochen nach dem Mauerfall hatte sich Brückner in seine alte Heimat aufgemacht und die Zeit des radikalen Umbruchs und der entsprechend großen Ungewissheit, die im Osten herrschte, als Chance erkannt, talentierte Spieler zu „seinem Verein“ in den Westen zu lotsen. In der DDR war es üblich gewesen, dass vor allem die größeren Klubs an Betriebe angegliedert waren. Nach der Wende gingen diese jedoch der Reihe nach Pleite, und mit ihnen die Vereine. So auch Dynamo Eisleben.
Beim Klub, der in der „DDR-Liga“, der zweithöchsten Spielklasse angesiedelt war, wurde Rolf Brückner im Spätherbst 1989 fündig und machte neben Maik Rumpel auch Karsten Hanas, Heiko Bedranowsky, Jörg Schmidt und Steffen Herms ein Angebot, bei dem Spielergehälter und Prämien allerdings nicht die Hauptrolle spielten. „Auch wenn der VfB zu dem Zeitpunkt ein solide geführter Verein war, war klar, dass uns der Fußball allein dort nicht ernähren würde“, erzählt Rumpel. Entscheidend dafür, dass das Quintett im Sommer 1990 dennoch den Sprung zum damaligen Verbandsligisten wagte, war also die berufliche Perspektive, die Brückner jedem einzelnen bot. Dabei gingen Hanas, Bedranowsky, Schmidt und Herms ein größeres Wagnis ein als Rumpel. „Alle vier hatten zu der Zeit bereits Familie“, erklärt Rumpel, für den als alleinstehender 20-Jähriger hingegen alle Türen offenstanden.
Pläne lösen sich in Luft auf
Mit 13 Jahren hatte Rumpel einst seine Heimatstadt Bitterfeld verlassen, um in der Kinder- und Jugendsportschule in Halle an der Saale auf eine Zukunft im Fußball hinzuarbeiten. Mit dem Nachwuchs des Halleschen FC traf er in der höchsten Junioren-Spielklasse auf namhafte Gegner wie Dynamo Dresden oder den 1. FC Magdeburg. Nach der A-Jugend wollte der Sprung in die erste Mannschaft zunächst jedoch nicht gelingen, sodass Rumpel den Umweg über die U21 nehmen musste. Doch kurz darauf wurden die Reserveteams aus finanziellen Gründen nach und nach abgeschafft, die Spieler daraufhin auf andere Vereine verteilt. Rumpel zog es zu Dynamo Eisleben, wo der Abiturient seine Armeezeit mit Fußballspielen verbinden wollte und den Plan verfolgte, später an der Sporthochschule in Leipzig zu studieren. Doch mit dem Mauerfall und dem bevorstehenden Zusammenbruch der DDR kam alles anders.
Sport in Zahlen: 414...
...Pflichtspiele bestritt Maik Rumpel zwischen 1990 und 2006 für den VfB Wissen. Es wären wohl noch ein paar mehr geworden, wäre er nicht im Sommer 1999 für eine Saison zum TuS Katzwinkel gewechselt.
Was anfangs mit großer Unsicherheit verbunden war, erwies sich jedoch recht schnell als Glücksfall – sowohl für die Spieler als auch deren neuem Verein. Gleich in der ersten Saison gelang dem VfB Wissen die Rückkehr in die damals noch drittklassige Oberliga Südwest, den 2:1-Heimsieg im alles entscheidenden Gipfeltreffen am letzten Spieltag gegen Verfolger SV Leiwen sahen mehr als 3000 Zuschauer – eine Marke, für die so mancher Rheinlandligist heutzutage die Heimspiele einer ganzen Saison zusammenrechnen muss. Drei Jahre später qualifizierten sich die Siegstädter sogar für die neu geschaffene Regionalliga West/Südwest, obwohl in der Aufstiegssaison bereits erkennbar wurde, dass der Verein über seinen Verhältnissen lebte, was in den Folgejahren auch im sportlichen Niedergang mündete: Vier Jahre nach dem größten Erfolg der Vereinsgeschichte fand sich der VfB nach drei Abstiegen in der Landesliga wieder.
So heftig die Turbulenzen ab Mitte der 1990er Jahre beim VfB Wissen auch waren: im Gegensatz zu den meisten seiner Weggefährten, auch jenen, mit denen er einst in den Westen aufgebrochen war, hielt Maik Rumpel dem Verein – abgesehen von einem kurzen Intermezzo beim TuS Katzwinkel (siehe Infokasten) – stets die Treue. In 16 Jahren gab es zwar durchaus auch noch weitere Wechselmöglichkeiten wie etwa zum Lokalrivalen VfL Hamm, der seine Glanzzeit in der Oberliga just in den Jahren hatte, als es in Wissen bergab ging. Doch Rumpel fühlte sich immerzu auch ein Stück weit verpflichtet. „Ich habe dem VfB Wissen einiges zu verdanken“, hat er bis heute nicht vergessen, wer ihn vor 30 Jahren an jenes Geldinstitut vermittelte, bei dem er nicht nur ein Praktikum machte und eine Ausbildung absolvierte, sondern für das er bis heute tätig ist.
Heimkehr war nie eine Option
Eine Rückkehr in die Heimat sei nie mehr eine Option gewesen, auch wenn Rumpels Mutter und auch die beiden älteren Brüder nach wie vor dort heimisch sind. „Aber einen echten Freundeskreis hatte ich da ja nicht, weil ich schon früh ins Sport-Internat gegangen bin.“ Und auch die Kontakte, die er in Halle geknüpft hatte, verloren sich nach der Wende schnell. Ähnlich wird es auch Karsten Hanas, Heiko Bedranowsky und Jörg Schmitt sowie den erst im Sommer 1991 nachgezogenen Peter Winter und Andreas Meyer gegangen sein, die allesamt in Wissen sesshaft geworden sind. Nur Steffen Herms wählte schon 1995 den Weg zurück, um die Firma seines Vaters zu übernehmen.
Für Rumpel ist „alles gut, wie es gekommen ist“. Mehr noch, die Begegnung mit Rolf Brückner sei im Nachhinein „ein Sechser im Lotto“ gewesen, mit dem zwar ein „Riesenschritt“ verbunden gewesen sei, den Rumpel aber nie bereut habe. Heimisch fühlt er sich 30 Jahre später längst im Westerwald. Doch auch in der alten Heimat ist er nach wie vor gerne zu Besuch, zumal der Ruf als „dreckigste Stadt Deutschlands“, den Bitterfeld-Wolfen einst innehatte, der Vergangenheit angehört. „Wo früher Kohleabbaugebiet waren, kann man heute Urlaub machen“, vergleicht Rumpel. „Das war damals unvorstellbar. Manchmal ist aus den Schornsteinen der Fabriken gelber Rauch aufgestiegen, da war allen klar, dass das Gift ist.“
Während der Fußball für den 51-Jährigen rückblickend das Sprungbrett in ein neues, vielleicht besseres Leben war, hat manch einer, mit denen er in der Jugend des Halleschen FC Chemie, wie der Klub bis 1991 hieß, zusammenspielte, im Sport Karriere gemacht. Zum Beispiel Dariusz Wosz, der für den VfL Bochum und Hertha BSC in der Bundesliga (324 Spiele), im Uefa-Cup (13) und der Champions League (10) auflief sowie 17-mal das Trikot der (gesamt-)deutschen Nationalmannschaft überstreifte. Oder Steffen Karl, dessen Werdegang allerdings weitaus weniger vorhersehbar war. „Bei Dariusz Wosz hat man schon früh erkannt, dass er ein Ausnahmetalent ist“, erinnert sich Rumpel. „Bei Steffen Karl war das nicht so. Von den Fähigkeiten her hatte man sich vor ihm damals eigentlich nicht großartig verstecken müssen.“ Dass Karl es trotzdem auf 99 Erstliga-Einsätze für Borussia Dortmund und Hertha BSC gebracht hat, belegt demnach einmal mehr, dass neben Talent auch eine große Portion Glück dazugehört, um es in den großen Fußball zu schaffen – gerade was Verletzungen angeht oder die Gunst, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Ein Relikt der Vergangenheit
Jederzeit der richtige Ort, das ist für Maik Rumpel nun schon seit langem das Haus in Ingelbach, in dem er mit seiner Frau Désirée und den beiden Kindern wohnt. Dass der Weg zur Arbeit aufgrund eines Filialwechsels von Betzdorf nach Altenkirchen bald nicht mehr eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, sondern nur noch rund zehn Minuten, wird ihm recht sein. An seinem Noch-Arbeitsplatz hat Rumpel deshalb in den letzten Tagen schon mal angefangen aufzuräumen. In Büros, wo neben Arbeitsakten und sonstigen Dokumenten gerne auch mal private Sachen in Schränken und Schubladen verstaut werden, um wenigsten auf dem Schreibtisch den Überblick behalten zu können, stößt man dabei unweigerlich auf manches Relikt der Vergangenheit. So erging es auch Maik Rumpel.
Ihm fiel dabei ein Ausschnitt aus der Rhein-Zeitung vom 9. November 2009 in die Hände. In einem Artikel mit der Überschrift „Am 9. November auf dem Ku’damm“ wurden damals auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Mauerfall seine Erinnerungen an jenen Tag geschildert, an dem er sich gemeinsam mit seinem Bruder Hartmut in dessen Trabi auf den Weg nach Berlin gemacht hatte, um sich ein Bild von dem zu verschaffen, was zunächst keiner so wirklich wahrhaben wollte.
Ob Rumpel beim Anblick des Zeitungsausschnitts wohl den Drang verspürte, zum Telefonhörer zu greifen und seinen älteren Bruder anzurufen? Dessen Nummer hätte er sich im Gegensatz zu der von Mario Nickeleit jedenfalls nicht erst noch besorgen müssen.
Auch als Trainer viele Jahre Erfahrungen gesammelt
Dass Maik Rumpel nach seiner aktiven Laufbahn als Fußballer ins Trainergeschäft einsteigen würde, war ihm schon während seiner Zeit als Spieler klar. Bereits mit Mitte 20 absolvierte er die Lehrgänge zur B-Lizenz. Die Gelegenheit, die dabei gewonnene Erkenntnisse umzusetzen, ergab sich später schneller als gedacht: Als Spielertrainer beim damaligen B-Ligisten TuS Katzwinkel sammelte Rumpel in der Saison 1999/2000 erste Erfahrungen als Übungsleiter, ehe er als Spieler zum VfB Wissen zurückkehrte. Richtig in Fahrt kam die Trainertätigkeit 2006, wo er ebenfalls als Spielertrainer bei den Sportfreunden Neitersen anheuerte, mit denen er gleich in der ersten Saison in die Rheinlandliga aufstieg. Dass Rumpel die Mannschaft in den beiden Folgejahren in der höchsten Verbandsspielklasse etablierte, weckte in der Nachbarschaft Begehrlichkeiten. Genauer gesagt bei der SG 06 Betzdorf, mit der er in der Spielzeit 2009/10 zwar Oberliga-Verbleib schaffte, am Saisonende aber dennoch wieder seinen Hut nehmen musste. Nach Engagements als DFB-Stützpunkttrainer in Westerburg und als Feuerwehrmann bei den A-Junioren der Sportfreunde Siegen coachte Rumpel von 2013 bis 2015 den Bezirksligisten SG Puderbach und kehrte dann, nach einem Jahr Auszeit, zu seinen Anfängen im Trainergeschäft zurück. Bei der SG Neitersen/Altenkirchen trainierte er in der Saison 2016/17 zunächst die C-Jugend in der Rheinlandliga, ehe er gemeinsam mit Lukas Haubrich 2017 die erste Mannschaft übernahm, mit der das Gespann zwei erfolgreiche Spielzeiten in der Rheinlandliga hinlegte. Seit Sommer 2019 ist Rumpel was den Fußball angeht beschäftigungslos. Ob es eine Rückkehr gibt? „Mann soll niemals nie sagen. Aber so, wie es momentan ist, fühle ich mich sehr wohl“, lässt sich der 51-Jährige alle Türen offen. hun