Interview mit Dirk von Lowtzow
„Wollen Songs schreiben, die sich einprägen“
Gehört mit seiner Band Tocotronic seit vielen Jahren zu den Aushängeschildern der deutschen Rockszene und legt mit "Golden Years" nun das nächste Album vor: Sänger Dirk von Lowtzow.
Annette Riedl. picture alliance/dpa

Tocotronic-Fans dürfen sich dieser Tage nicht nur auf das Album „Golden Years“ freuen, sondern auch auf den Tourbesuch der Kultrocker in Köln. Sänger Dirk von Lowtzow spricht mit uns zuvor über die neue Platte, das veränderte Bandleben und die AfD.

Mit „Golden Years“ bringen Tocotronic in diesem Monat ein neues Album auf den Markt, das einen kleinen Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten vermitteln soll. Ab März ist die Hamburger Rockband dann auf Tour – und kommt auf dieser am 12. April auch ins E-Werk nach Köln. Zeit für ein Interview mit Sänger Dirk von Lowtzow.

Herr von Lowtzow, warum heißt das neue Album „Golden Years“? Der Titel überrascht, denn golden waren die vergangenen Jahre ja nun wirklich nicht – zumindest, wenn man auf die Welt blickt.

Wir wollten einen Titel, der größtmögliche Offenheit und Ambiguität ausstrahlt. Ambiguität ist für uns ein wichtiges Wort. Viele unserer Lieder – und auch das Cover des neuen Albums – haben diesen Doppelbildcharakter. Natürlich kann man „Golden Years“ als Hoffnungsschimmer deuten, aber angesichts der Gegenwart auch sarkastisch verstehen. Der Titel hat zudem etwas Heiteres, wenn man bedenkt, dass er in England eine Umschreibung für das Rentenalter ist. Und da ein Rockjahr sieben Menschenjahren entspricht, sind wir schon sehr lange dabei. Wir mögen diese offenen Systeme wahnsinnig gern, wenn sich in einen Albumtitel so vieles hineinpacken lässt.

Wenn Tocotronic eine neue Platte veröffentlichen, sorgt das stets für großes Echo. Wie nehmen Sie das wahr?

Für mich ist das immer ein ambivalenter Moment. Ich liebe den Augenblick, wenn ein Album fertig abgemischt und gemastert ist. Dann genieße ich es wahnsinnig, weil die Platte in diesem Moment nur mir und den mir nahestehenden Menschen gehört – natürlich Arne (Schlagzeuger Arne Zank, Anm. d. Red.), Jan (Bassist Jan Müller) und den Leuten aus unserer Toco-Familie. Das ist ein beglückendes Gefühl, denn dann kann ich zum ersten Mal mit klarem Bewusstsein hören, wie großartig alle auf dem Album gespielt haben.

Und vorher?

Vorher bin ich in einer Art kreativer Manie gefangen, in der ich ständig an den Stücken arbeite. Diese Phase ist bei mir oft von Zweifeln geprägt. Natürlich habe ich auch Angst, wie das Album bei den Leuten ankommt. Aber gleichzeitig empfinde ich große Freude und Euphorie, dass die Platte endlich das Licht der Welt erblickt. Gedanklich bin ich dann jedoch schon wieder bei neuen Liedern.

„Im Umgang mit der AfD braucht es politische Entschlossenheit, und die vermisse ich manchmal.“
Dirk von Lowtzow

„Denn sie wissen, was sie tun“ lautet die erste Single. Laut „Musikexpress“ haben Sie den Song 2023 geschrieben, als sich abzeichnete, dass die AfD bei der kommenden Bundestagswahl 20 Prozent der Stimmen erhalten könnte. Ein klassischer Protestsong ist es aber nicht, oder?

Man kann den Song politisch deuten, muss es aber nicht. Wenn man ihn isoliert als Single betrachtet, bekommt er diesen Charakter. Das war uns bewusst und auch wichtig. Als wir ihn in den sozialen Netzwerken veröffentlicht haben, haben wir ihn mit dem Hashtag „No AfD“ versehen. Im Kontext des Albums muss man ihn jedoch nicht zwangsläufig politisch interpretieren. Es kann auch um ein Gegenüber gehen, unter dessen Niedertracht man leidet, das einen bedrängt und ausnutzt. Diese Niedertracht hat in der Gesellschaft eine gefährliche Hegemonie erlangt – das fällt mir immer wieder auf.

Viele Menschen greifen auf Niedertracht zurück, um ihre persönlichen oder politischen Ziele durchzusetzen. Trump, die AfD, Elon Musk oder der österreichische FPÖ-Politiker Herbert Kickl nutzen diese Strategie gezielt, um Teile der Bevölkerung von der restlichen Gesellschaft abzuspalten und eine gewaltbereite Gefolgschaft heranzuzüchten. Genau um diese Leute geht es in dem Song. Deshalb würde ich widersprechen und sagen: Doch, es ist ein klassischer Protestsong. Es hat diese hymnische Qualität, die viele andere Protestsongs auch auszeichnet.

Ihr Bassist Jan Müller hat in seiner Podcast-Reihe die 20 besten Lieder über Angst vorgestellt. Auch bei Tocotronic spielt das Thema eine Rolle. Wie viel Angst macht Ihnen die AfD?

Mir macht das große Angst. Allerdings denke ich, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Im Umgang mit der AfD braucht es politische Entschlossenheit, und die vermisse ich manchmal. In der politischen Klasse herrscht oft ein gewisser Defätismus – nach dem Motto: „Was sollen wir eigentlich machen?“ Die rechtlichen Möglichkeiten sind bislang nicht vollständig ausgeschöpft. Ich denke dabei an ein AfD-Verbot oder zumindest an die Einleitung eines Verbotsverfahrens. Leider wird in dieser Hinsicht viel zu zögerlich agiert.

Das Grundgesetz bietet die Möglichkeit eines Parteiverbots – warum sollte man diese nicht nutzen? Zudem finde ich, dass die EU-Ebene viel stärker in die Algorithmen der sozialen Netzwerke eingreifen könnte. Ich spreche dabei nicht von Zensur, denn das ist ein schwieriges Terrain. Aber ich meine Algorithmen, die dazu führen, dass man etwa von einem Yoga-Kurs direkt bei einem rechten Influencer landet, zum Beispiel auf YouTube. Wenn man Hass und Hetze etwas entgegensetzen will, gäbe es hier Handlungsspielraum. Leider befürchte ich, dass wirtschaftliche Interessen dem oft im Weg stehen.

Der zweite Song, „Bleib am Leben“, ist ein sehr trauriges Stück. Es scheint, als würden auf der neuen Platte viele Emotionen und Erlebnisse verarbeitet. Sie schreiben Texte, die einen zum Nachdenken bringen, und Melodien, die selbst Jahre später noch als Ohrwurm im Kopf bleiben. Wie schaffen Sie das?

Damit ist mein Tag gerettet – genau das ist der Zweck der Übung. Wir wollen natürlich Songs schreiben, die sich langfristig ins Gedächtnis einprägen. Bei all der Doppeldeutigkeit, die uns seit Jahren als Strategie wichtig ist, versuchen wir gleichzeitig auch, ehrlich den Status unseres Lebens zu beschreiben – so wie bei jedem Album, das wir gemacht haben. Wir sind da sehr mitteilungsbedürftig. Und wir befinden uns in einem Alter, in dem man zunehmend mit Verlusten von geliebten Menschen konfrontiert wird. Es gibt plötzliche Todesfälle. Wenn man aufrichtig über sich selbst sprechen möchte – auch mit einer gewissen Großzügigkeit –, dann muss man über solche Dinge singen.

Sänger Dirk von Lowtzow (3. von links) mit seinen Tocotronic-Bandkollegen Jan Müller (rechts) und Arne Zank (2. von links) im Jahr 2023 bei einem Auftritt auf der Hamburger Freilichtbühne im Stadtpark. Damals mit dabei war auch noch Gitarrist Rick McPhail (links), der sich aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen eine Auszeit genommen hat.
Georg Wendt. picture alliance/dpa

„Weine nicht, ich bitte dich … kein Abschied ist für immer. Oder doch?“, singen Sie im Eröffnungssong des Albums. Wen sprechen Sie damit an?

Das ist ein Lied, das Halt und Trost spenden soll – für jemanden, der einen geliebten Menschen verloren hat. Echter Trost ist jedoch nur dann authentisch und keine bloße Floskel, wenn ein solches Lied auch die Zerrissenheit der inneren Existenz widerspiegelt. Genau das geschieht, wenn ein Wort wie „fast“ an die Stelle von „fest“ tritt. In der Zeile heißt es: „Du kannst mir fast vertrauen.“ Diese kleine, subtile Verschiebung macht einen Song für uns spannend. Denn am Ende kann man sich eben doch nie ganz sicher sein.

Im vergangenen Oktober hat Ihre Band bekannt gegeben, dass sich Gitarrist Rick McPhail aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen für unbestimmte Zeit eine Auszeit nehmen wird. Wie sehr fehlen er und sein Gitarrenspiel?

Er fehlt uns natürlich sehr. Sein Spiel auf dem neuen Album war wunderbar und unverwechselbar. Wir wünschen ihm von Herzen alles Gute. Mehr möchte und kann ich dazu nicht sagen, auch aus Rücksicht auf seine Privatsphäre. Was die Zukunft betrifft, sehen wir es als einen Prozess. Wir arbeiten daran, beobachten, was passiert, und sind sehr zuversichtlich.

Aber Sie, Jan Zank und Arne Müller bleiben schon zusammen, oder?

Für die Ewigkeit würde ich mich jetzt nicht trauen zu sagen, aber für eine halbe Ewigkeit schon.

Man nannte Tocotronic oft die wichtigste deutsche Band. Hat sie das gestört oder mit Stolz erfüllt?

Gestört hat es mich eigentlich nicht. Aber Stolz ist ein Gefühl, das ich nicht kenne. Ich mag keine Rankings. Unsere Arbeit ist jedoch sehr anspruchsvoll und oft schmerzhaft. Unser kommerzieller Erfolg hält sich in Grenzen. Es gibtBands, die in den vergangenen 30 Jahren viel erfolgreicher waren – das ist aber okay. Ich finde es schön, wenn die geleistete Arbeit anerkannt wird.

Tocotronic: „Golden Years“, Sony Music, CD/Vinyl/MP3, erscheint am 14. Februar. Weitere Infos zur Tour und Karten für das Konzert im E-Werk Köln gibt’s online unter www.tocotronic.de