Wohin steuert die Welt mit all ihren Konflikten? Und ist Europa angesichts der – spätestens durch Trump – so fundamental auf den Kopf gestellten Machtverhältnisse überhaupt noch zukunftsfähig? Diese Fragen könnte man Joschka Fischer nachts um 3 Uhr stellen und erhielte darauf auch um diese Zeit noch fundierte Antworten. Der ehemalige Außenminister (1998–2005) und erste grüne Vizekanzler ist auch 20 Jahre nach seinem Rückzug von der großen politischen Bühne ein höchst aufmerksamer Beobachter internationaler Entwicklungen.
Ein Mann klarer Worte, der stets streitbar war – und ist –, der den Wandel vom linksradikalen Straßenkämpfer zum Staatsmann vollzogen hat, die heute entschieden pro-westliche Position der Grünen maßgeblich mitprägte und den USA 2003 mit seinem legendären Satz „I’m not convinced“ („Ich bin nicht überzeugt“) die militärische Unterstützung im Irak-Krieg versagte.
Die Kartierung eines geopolitischen Minenfelds
In den vergangenen Jahren hat sich Fischer nun vor allem in Buchform zu Wort gemeldet, hat sich mit dem Abstieg des Westens oder einem möglichen Scheitern Europas auseinandergesetzt; erst Mitte März ist bei Kiepenheuer & Witsch zudem sein aktuelles Werk „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ erschienen. Eine kluge – und ebenso ernüchternde – Abhandlung über die Konflikte unserer Zeit, in der Fischer das geopolitische Minenfeld zwischen Ukraine, Taiwan und Gaza sehr präzise kartiert, übergeordnet aber vor allem jener schicksalhaften Frage nachgeht, die auch in Koblenz viel spannenden Gesprächsstoff lieferte: Was wird in dieser unsicheren Zukunft eigentlich aus Europa?
Im Theaterzelt auf dem Festungsplateau stand Fischer hierzu nun im Rahmen des ganzOhr-Literaturfestivals Rede und Antwort. An einem Abend, der für die Besucher nicht wirklich viel Stimmungserhellendes bereithielt – wie könnte er auch, wenn er sich um die aktuelle Weltpolitik dreht –, am Ende aber dennoch Ermutigendes hervorbrachte, was wiederum ganz maßgeblich mit der tendenziell düsteren Realität zu tun hatte.
„Deutschland und Europa werden für ihre Sicherheit in Zukunft selbst sorgen müssen, und das wird uns allen einen Mentalitätswechsel abverlangen.“
Joschka Fischer
Doch dazu später mehr: In den gut 75 Minuten zuvor geht es im Gespräch mit Robert Duchstein, seines Zeichens künstlerischer Leiter von ganzOhr, zunächst einmal um die großen Themenblöcke in Fischers Buch. Der 76-Jährige spricht – natürlich – über Trump, der durch die republikanischen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus, dank eines Obersten Gerichtshofs auf Linie und der Unterstützung gleichgesinnter Oligarchen wie Elon Musk eine bedenkliche Fülle an Macht auf sich vereine. Als Ergebnis eines schwer nachvollziehbaren Aufstiegs, deren Ursache Fischer im „lügenbasierten Irakkrieg“ sieht, der gerade bei der ländlichen Bevölkerung den Eindruck geschürt habe, „dass vor allem sie die hohen menschlichen und ökonomischen Opfer für diese letztlich gescheiterte Weltrettungsmission zahlen mussten“.
Die daraus resultierende Enttäuschung indes habe den „Egomanen“ Trump schließlich ins Weißen Haus gespült, einen überzeugten Isolationisten, der die wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung der USA bewahren wolle, „mit seinem Handeln am Ende aber genau das Gegenteil bewirken wird“, wie Fischer vermutet. Wobei sich die Welt auch jetzt schon „fundamental verändert“ habe – von einer wertebasierten hin zu einer primitiven Grundordnung, in der „die Mächtigen wie Trump, Putin und Xi Jinping ihre Interessen ohne Rücksicht auf die Schwächeren durchsetzen“.

Was wiederum ganz unmittelbar auch die EU betreffe, die wirtschaftlich zwar stark, machtpolitisch jedoch „inexistent“ sei, die viel zu spät auf die zerbröselnde Weltordnung reagiert und sich immer nur naiv auf den Schutz der USA verlassen habe. Eine über Jahrzehnte gültige Gewissheit, die spätestens seit Trump passé sei – und nur einen Schluss zulasse: „Deutschland und Europa werden für ihre Sicherheit in Zukunft selbst sorgen müssen, und das wird uns allen einen Mentalitätswechsel abverlangen“, verdeutlicht Fischer und leitet daraus auch gleich eine Forderung ab: „Wir brauchen eine Art Neugründung der EU und müssen eine militärische Kraft entwickeln, die allerdings nur entstehen kann, wenn wir uns enger verbinden.“
Deutschlands Stärke „essenziell“ für die EU
Eine Verteidigungsunion anstelle nationaler Alleingänge also. Und die Nato? Solle und dürfe von Europa niemals abgeschrieben werden, appelliert der 76-Jährige, auch wenn deren Fortbestand ganz maßgeblich davon abhänge, „wie viel Schaden Trump in den nächsten Jahren noch anrichtet“. Das geplante 500-Milliarden-Finanzpaket der möglichen Koalitionspartner CDU und SPD jedenfalls halte er in diesem Kontext für „sehr wichtig“, schließlich sei die dadurch begünstigte politische, wirtschaftliche – und künftig auch militärische – Stärke Deutschlands „essenziell“ für die EU.
Gerade auch, um im Konflikt mit Putin bestehen zu können, über dessen Vorgehen Fischer sagt: „Den Untergang der Sowjetunion und den damit verbundenen Verlust des Weltmachtstatus haben die russischen Eliten – ich fürchte sogar: die Mehrheit der Bevölkerung – nie akzeptiert.“ Weshalb die Politik Moskaus seit dem Ende des Kalten Krieges darauf ausgerichtet gewesen sei, die verloren gegangene Einflusssphäre wiederherzustellen.
„Der einzige Ausweg wäre die Zweistaaten-Lösung, aber die wollen beide Seiten nicht, sowohl Israelis als auch Palästinenser wollen den jeweils anderen nur verdrängen und vernichten.“
Joschka Fischer über den Nahost-Konflikt
Europa hingegen habe Putins Motivation „viele Jahre lang gnadenlos unterschätzt“, befindet Fischer, der in dieser Frage vor allem auch Deutschland in die Verantwortung nimmt: „Dass wir uns in eine solche Abhängigkeit von russischen Energielieferungen begeben haben, dass Merkel diese Abhängigkeit sogar noch vergrößert hat, war nicht nur naiv, sondern saudumm“, sagt er – und warnt zugleich eindringlich vor einem möglichen Erfolg Putins in der Ukraine, denn: „Wenn sich Russland dort durchsetzt, wird es nicht der letzte Krieg gewesen sein, dann wird es für Europa brandgefährlich, und allein schon deswegen sollten wir alles dafür tun, damit es nicht so kommt.“
Auch weil sich die EU an ihrer Südostflanke noch mit einer weiteren, für Fischer nicht weniger heiklen Situation konfrontiert sieht: dem Nahost-Konflikt, von dem der 76-Jährige erwartet, dass dieser weiter eskalieren wird und sich durch die (indirekte) Beteiligung des Iran zu einem „Zünder für einen Weltenbrand“ entwickeln könnte. Ernsthafte Friedensperspektiven? Sind für Fischer derzeit nicht wirklich absehbar: „Der einzige Ausweg“, erklärt er, „wäre die Zweistaaten-Lösung, aber die wollen beide Seiten nicht, sowohl Israelis als auch Palästinenser wollen den jeweils anderen nur verdrängen und vernichten, daher habe ich aktuell leider keine Antwort darauf, wie sich dieser Konflikt beenden lässt.“
Erklärungsbedarf in Sachen Europa
In Deutschland indes sorgt sich Fischer vor allem um den Aufstieg der AfD, der aus seiner Sicht auch darin begründet liegt, „dass die demokratischen Parteien keine Führungsalternative bieten“. Und in der wachsenden Ablehnung der EU, die nicht zuletzt dadurch befeuert worden sei, dass der Bevölkerung die Europapolitik seit Adenauer nie „mit offenen Worten erklärt wurde“. Woraus Fischer im Umkehrschluss ableitet, man müsse den Menschen „die deutsche Führungsrolle in Europa und deren Bedeutung verständlich machen, dann wird auch unser Problem mit nationalistisch eingestellten Parteien wie der AfD kleiner“.
Eine bedrückende Gesamtlage, die für den 76-Jährigen allerdings keinen Grund darstellt, den Mut zu verlieren: „Wir haben es derzeit mit mannigfaltigen Bedrohungen zu tun“, sagt er, „und die werden auch bleiben, aber unsere Demokratie ist zu wertvoll, um sie einfach aufzugeben, sie sollte uns vielmehr Anlass sein, sich zu vereinen und aktiv zu werden.“ Schließlich sei der vermeintliche Pessimismus in Wirklichkeit Realismus – und den gelte es nicht nur auszuhalten, sondern zu bewahren. Auch weil zur Wahrheit gleichermaßen dazugehöre, „dass wir immer noch in einem großartigen Land mit großartigen Nachbarn leben – und dafür sollten wir dankbar sein“.
Joschka Fischer: „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“, Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 23 Euro