Was, wenn ein Theater heutzutage ähnlich verfährt, wenn es ein Stück schreiben lässt und auf die Bühne bringt, das einen eben erst stattgefundenen kommunalpolitischen Skandal in der eigenen Stadt thematisiert? So geschehen jetzt am Staatstheater Wiesbaden mit dem Auftragswerk „Casino“, das am Wochenende uraufgeführt wurde und die dubiosen Vorgänge um den vorigen Wiesbadener SPD-Oberbürgermeister Sven Gerich behandelt.
Kein Buch mit sieben Siegeln
Unters Premierenpublikum hat sich eine erkleckliche Zahl von Leuten gemischt, die hier sonst ganz selten oder nie zu sehen sind: Lokalpolitiker und andere Angehörige der örtlichen Honoratioren. Sie wollen sehen, was die Bühnenkunst aus den Recherchen macht, die Regisseur Clemens Bechtel und Dramaturgin Marie Johannsen vor Ort monatelang angestellt hatten und die Autor David Gieselmann als Grundlage für „Casino“ dienten. Auch wenn der ortsfremde Zuseher die im Winter 2018/19 aufgekommenen und in der Presse des Rhein-Main-Gebietes wie den hessischen Landesmedien breit verhandelten Vorkommnisse nur ganz am Rande wahrgenommen hat, so ist ihm dieses Stück doch alles andere als ein Buch mit sieben Siegeln.
Denn es geht darin um vielerorts sattsam Bekanntes, mag es auch anderwärts nicht die dramatischen Ausmaße annehmen wie zuletzt in der Landeshauptstadt Hessens: um Korruption und Vorteilsnahme von Amtsträgern, um kommunale Cliquen- und Klüngelwirtschaft, um Seilschaften und vermeintliche Freundschaften. Es geht nicht zuletzt um das Abheben und die Selbstermächtigung eines vormals politischen Hoffnungsträgers, der durch unerwarteten Wahlausgang 2013 ins OB-Amt gelangte. Mit der Überraschung, dem Staunen, der Freude des Kandidaten und seiner Mannschaft über den Wahlerfolg beginnt im Theater der Rückblick auf „Svens“ Amtszeit.
Doch der 95-minütige Abend wird nicht das, was mancher örtliche Zeitgenosse erwartet, womöglich erhofft hat. Statt Schlachtfest und giftig-brachialer Generalabrechnung mit einem veritablen Politsumpf wird ein eher gediegenes, nachdenkliches „Political“, so der Untertitel des Abends, gegeben, eine sparsam mit Livemusik ausgestattete Mixtur aus Kabarett, Dokumentation und Charakterstück. Darin kommen allerhand skandalöse Fakten zur Sprache – vom Edelbüro für sündhaft viel Geld, das sich Sven gleich nach Amtseintritt einrichten ließ, über einen von vornherein gefakten Plan zum Bau eines Stadions bis hin zu dubiosen Schiebereien bei der Vergabe von Wirtskonzessionen für Spielcasino und Kurhaus.
Aber das eigentlich Interessante an „Casino“ sind nicht die Fakten, sondern der Umgang der Protagonisten damit. Autor Gieselmann hat jenen Wiesbadener Sumpf auf ein zentrales Personendreieck komprimiert: SPD-Oberbürgermeister Sven Gerich, CDU-Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, Bernd Brenz, Immobilienunternehmer und Chef der städtischen Holding, Wolf Meister. Die Namen sind leicht verfremdet, jeder Wiesbadener weiß jedoch, wer gemeint ist.
Und jedem Auswärtigen fallen ähnliche Typen mit ähnlichen Verhaltensmustern an anderen Orten ein: Sie empfinden, was sie unsauber oder unrechtmäßig tun, gar nicht als skandalös oder nur als kleine Sünde respektive ein bisschen Hemdsärmeligkeit zwecks unbürokratischer Durchsetzung mehr oder minder hehrer Projekte.
Mit allen Wassern gewaschen
Stück und Spielweise stellen die drei keineswegs als von grundauf verdorbene Charaktere an den Pranger, die Politik nur als Mittel sehen, sich die Taschen vollzustopfen. Wolf Meister ist bei Uwe Kraus ein gar nicht mal unsympathischer, aber primär eben derart dem geschäftlichen Erfolg verschriebener Typ, dass er für einen guten Schnitt manch krumme Tour geht. Michael Birnbaum stellt den CDU-Mann Brenz dar als über Jahrzehnte in der Kommunalpolitik mit allen Wassern gewaschenen, sich darob selbst für schier allmächtig haltenden Strippenzieher. Und der OB Sven von Thomas Peters fällt schließlich über die eigene Eitelkeit, über seinen Wunsch, von allen bewundert zu werden, wenn er nach Gusto waltet, sowie über seine mehr oder minder bewusste Sehnsucht aufzusteigen in die Lebenssphäre der reichen Hautevolee. Als die Skandale von einer Zeitungsredaktion – hier vorgeführt, wie sie sich Klein Hänschen in aller Naivität vorstellt – aufgedeckt werden, lassen die drei einander fallen wie heiße Kartoffeln und gehen aufeinander los. Dazu lässt Shakespeare sich hören mit seiner Lehre aus der großen Königspolitik: „Die deine Freunde waren, sind Feinde nun.“
Weitere Termine und Infos zu „Casino“ gibt es unter www.staatstheater-wiesbaden.de