Mainzer Fassung von Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" wirft viele Fragen auf
Wie eine Inszenierung die Schauspielkunst schluckt
Aus Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ wird in Mainz zu einem Vampir-Grusical. Foto: Staatstheater Mainz/Pipprich
Theater Mainz

Mainz. Es mag zwei Jahrzehnte her sein, dass Robert Musils Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von 1906 am Staatstheater Wiesbaden als Bühnenbearbeitung gezeigt wurde. Das Stück spielte damals im nachgebauten Waschraum eines Jungeninternats. Es war inszenatorisch auf die zwar extrem verkürzte, aber eine die Kernthematik des Romans wiedergebende realistische Darstellungsart konzentriert. Am Staatstheater Mainz verlegt nun Regisseurin Lucia Bihler das Geschehen in einen düsteren Wald, verwandelt Musils Internatsbuben in Vampire und lässt sie obendrein allesamt von Frauen spielen. Dieser Zugriff wirft eine Menge Fragen auf.

Jene Geschichte um die individuellen und gruppendynamischen Abgründe im Rund einer Handvoll pubertierender Internatszöglinge in die Form eines Vampir-Grusicals zu packen – diese Idee ist gar nicht so abwegig, wie es zuerst erscheinen mag. Was Musil thematisiert, hat schließlich eine Menge zu tun mit Entwicklungen, während derer Stärkere sich lustvoll die Lebenskraft eines Schwächeren aneignen durch Mobbing, soziale Quälerei, leibhaftige Folter und sexuellen Missbrauch. Die Vampiridee könnte also durchaus tragen – würde sie in der Mainzer Inszenierung nicht über weite Strecken an manierierten Spielereien kranken.

Was, wenn die vier tragenden Figuren nach Kostüm, Haartracht, Gesichtsschminke völlig gleich aussehen und äußerlich kaum unterscheidbar sind, obwohl es hier doch gilt, vier sehr verschiedene Charaktere auszuformen? Was, wenn zudem der Körperausdruck der vier auf fast marionettenhafte Gleichartigkeit choreografiert ist? Was, wenn obendrein den Schauspielrinnen die natürliche Stimme durch technische Dopplung und Verzerrung genommen wird? Was, wenn den ganzen Abend über vor dem Bühnengeschehen ein Gazevorhang hängt, der trotz seiner Transparenz spätestens ab der siebten Zuschauerreihe die Mimik der Bühnenakteure verschwimmen, gar unkenntlich werden lässt? Dann, ja, dann ist im Grunde dem Schauspiel das Ureigenste verloren gegangen: die Schauspielerei.

Gewiss, die kollektive Bewegungspräzision des kleinen Ensembles im Raum ist so großartig wie die Disziplin der kunstvoll künstlichen Gesten aller Beteiligten gegeneinander. Als Ballett wäre das vielleicht interessant, als Schauspiel führt es vor allem ins unwägbare Reich des Märchensymbolismus. Davor bewahren auch die ruppig auf den Gazevorhang projizierten Videoeinsprengsel nicht, die die Schauspielerinnen beispielsweise in zuvor aufgenommenen Szenen brachialer Gewaltanwendung oder losgelassener Sexualfantasien zeigen.

Allerdings gibt es während der knapp 100 Vorstellungsminuten ein paar Momente, in denen sich dann doch pure Schauspielkunst gegen den Manierismus des Ganzen behauptet. Etwa bei einem berührenden Annäherungsdialog zwischen dem von allen gequälten Barsini und dem in schrecklicher Verwirrung aus Lust, Neugier, Scham und Liebesbedürfnis zappelnden Törleß. Da endlich können Kruna Savic und Paulina Alpen ihrem schauspielerischen Vermögen Lauf lassen – und mit den Tiefen des Menschlichen die trickreiche Technik flugs an die Wand spielen, sie vergessen machen.

Am Ende bleibt indes doch die Frage, wozu die Operation Vampir-Grusical gut sein soll. Den Musil-Roman grob im Kopf, stellt man fest: Die Inszenierung hat dem keinen einzigen neuen, interessanten Gedanken beizufügen. Der Zuseher hat nur ständig die Mühe, theatralische Effektablenkungen vom Eigentlichen auszublenden. Und was bewirkt der Umstand, dass in allen Bubenkostümen Frauen stecken? Im diesem Mainzer Fall eigentlich gar nichts.

Karten und weitere Informationen im Internet unter www.staatstheater-mainz.de

Von unserem Autor Andreas Pecht