Von unserem Autor Andreas Pecht
Es ist seit jeher ein spannendes Phänomen am Theater: Mit den Veränderungen in der Realwelt bekommen Bühnenklassiker plötzlich neue Subtexte. Selbst wenn Regisseure gar nicht demonstrativ darauf abheben, entstehen im Kopf des Zusehers sich auf die Gegenwart beziehende Bedeutungsebenen. In Ester Hattenbachs Inszenierung von Bertolt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ am Theater Koblenz eskalieren Kontroversen schnell zu wütender, lautstarker, giftender Streiterei. Man denkt unversehens: So ist das heutzutage.. Das Publikum wird zu Beginn in diese „moderne“ Manier der Streiteskalation hineingezogen. Das schafft Thomas Schweiberer als durch den Dreistundenabend führender Sänger mühelos. Die Regie hat ihm die ursprünglich für acht Personen und allerhand Volk geschriebene erste Szene als Solonummer aufgegeben. Mit komödiantischer bis kabarettistischer Animation verführt er das Auditorium, im Prologstreit zwischen zwei Kolchosen (scheinbar) Partei zu ergreifen. Ergebnis: Krawall im Theater, zumindest akustisch.
Es läge falsch, wer daraus schließt, wir hätten es mal wieder mit einer mutwillig auf Ungestüm und Comedy-Schäume gebürsteten Inszenierung zu tun. Gewiss, es gibt da Phasen und Figuren, die mit hektischem Gerenne und Gemache, mit karikaturenhaftem Zuschnitt die Grenze zum Boulevardesken überschreiten. Dorothee Lochner etwa: Sie gibt die Gouverneursgattin schrill übertrieben als ebenso egomanische wie hysterische Herrschaftstype. Das ist zwar schön lachhaft gespielt, aber brechtisch ist es eher nicht. Gleichwohl steckt auch darin ein Moment des Brecht‘schen Verfremdungseffektes: Die – hier meist komischen – Überzeichnungen auf mehreren Positionen zertrümmern von vornherein jede Erwartung, es könne ein quasirealistisches Gefühlsdrama vorliegen. Dass dabei Brechts kühler, rationaler, oft belehrender Deklamationsstil ersetzt wird durch heutige Humoristik bis hin zu Slapstick und Kalauerei, mag einem mehr oder minder gefallen; legitim ist das – und in Koblenz meist sinnhaft eingesetzt.
Die Kostüme (Annemarie Clevenbergh) sind heutig. Auf Geelke Gaykens sparsamer Bühne trennen Plastikplanen zeitweise die Sphäre der Kreidekreisparabel von der Außenwelt. Sie werden heruntergerissen, sobald die eine Welt in die andere greift. Ansonsten viel leerer Raum, bei Flucht- und Vertreibungsszenen bestückt mit riesigen Plundersäcken; in den Szenen, da der widerwillig zum Richter avancierte Azdak Verhandlung führt, dominiert ein aus Holzpaletten gezimmerter Vorsitzendenthron die Szenerie. Dort kann David Prosenc mit an sehenswertem Irresein grenzender Eindringlichkeit seinen Azdak vom korrupten Lumpen zum weisen Volksrichter entwickeln.
Zwischentitel als Facebook-Posts
Brechts Manier folgend, setzen im Bühnenhintergrund Schrifteinblendungen Zwischentitel – hier allerdings in Form von Facebook-Posts. Diese kommentieren Nachrichten aus der von Kriegen unter Mächtigen und der sie begleitenden Aufstände zerrütteten Welt mit „Fake! Fake! Fake!“. Modernisierung auch musikalisch: Ein von Johannes Bartmes geleitetes Trio transferiert Paul Dessaus kantig-drängende Klänge raffiniert in Nummern von Cooljazz über Funk und Minimal bis Rap.
Zwischen all dem zieht die Magd Grusche durchs Land, das Kind des geköpften Gouverneurs vor dem Verhungern und vor dem Aufgespießtwerden bewahrend. Sie hat sich des von der Gouverneursgattin bei der Flucht einfach zurückgelassen Babys angenommen, obwohl ihr das nur Ärger und Qual einbringt. Jana Gwosdek gibt diese Magd als eine Art jüngere und etwas zarter besaitete Mutter Courage. Resolut den Widernissen der Realität trotzend oder sich um des Überlebens willen ihnen anpassend, wird ihr das Überleben des Kindes zur obersten Pflicht – ganz ohne Blutsbande, allein weil es ein hilfloses Kind ist.
Gwosdeks intensives Spiel lässt uns einmal mehr dass irritierende Phänomen erleben, das so vielen Brecht-Stücken eigen ist: Trotz allen auf Rationalität pochenden und Gefühlsduseligkeit meidenden Bemühens ihres Schöpfers wird gerade bei den scheinbar kühlsten, sachlichsten, robustestens Frauenfiguren aus dem einfachen Volk die Größe echter Menschlichkeit deutlich.
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