Gut acht Jahrzehnte liegt das Ende der Naziherrschaft inzwischen zurück, 26 Jahre zuvor hatte das Deutsche Reich bereits seine letzten Kolonien aufgeben müssen. Und doch steckt die Erforschung der in diesen Epochen geraubten Kulturgüter in Deutschland immer noch in den Kinderschuhen, gibt es nach wie vor unzählige weiße Flecken in den Kunstsammlungen der Museen, von denen bei einer Umfrage in Rheinland-Pfalz jüngst 86 Prozent angaben, „bislang keine Provenienzforschung“ betrieben zu haben.
Wie groß der Nachholbedarf in diesem Bereich ist, verdeutlichte im vergangenen Jahr auch die Werkschau „Herkunft (un)geklärt“ in Mainz: Als eines der größeren Ausstellungshäuser in Rheinland-Pfalz hatte das dortige Landesmuseum seine umfangreichen Bestände ebenfalls erst 2016 eingehender untersucht, um die (vorläufigen) Ergebnisse in besagter Schau dann der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Ein wichtiger, wenngleich später Schritt in die richtige Richtung, für den es vor allem kleineren Museen allerdings meist an Geld und Personal fehlt.
31 Objekte belastet, mindestens fünf bedenklich
Die gute Nachricht: In Politik und Verwaltung ist das Problem mittlerweile angekommen. Auch in Rheinland-Pfalz, wo der Museumsverband im vergangenen Jahr das Pilotprojekt „Erstcheck NS-Raubgut“ aufgelegt hat – mit dem Ziel, „den Bedarf für vertiefende Provenienzforschung zu ermitteln“ und „eventuelle Verdachtsmomente zu identifizieren“, wie es aus Ludwigshafen heißt.
Vier kleinere und mittelgroße Museen nahmen an dem von Landeskulturministerium und Deutschem Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekt teil. Darunter auch das Roentgen-Museum in Neuwied, in dem laut kürzlich vorgestelltem Abschlussbericht 31 Objekte als „höchstwahrscheinlich oder eindeutig belastet“ gelten, es also konkrete Hinweise darauf gibt, dass sie ihren früheren Besitzern in der NS-Zeit verfolgungsbedingt entzogen wurden. Hinzu kommen mindestens fünf weitere Gegenstände, deren Provenienz „bedenklich“ ist, mehr als 209, bei denen die Eigentümerhistorie aufgrund lückenhafter Dokumentation (noch) nicht abschließend geklärt werden konnte, und lediglich 19, die als eindeutig „unbedenklich“ einzustufen sind.
„Wir sind bei dieser Aufgabe zwingend auf Hilfe von außerhalb angewiesen.“
Jennifer Stein über die Herausforderung Provenienzforschung
Überprüft wurden derweil insgesamt 725 Objekte, die ihren Eingang zwischen 1933 und 1945 in die vor allem aus Kunstmöbeln bestehende Sammlung gefunden haben. Und deren Herkunft bislang nur bei „einigen wenigen prominenten Gegenständen“ bekannt war, wie Jennifer Stein im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt.
Die Museumsdirektorin verweist in diesem Kontext ebenfalls auf die begrenzten finanziellen respektive personellen Mittel ihres Hauses und erklärt: „Eine eigene Stelle für Provenienzforschung zum Beispiel, wie sie mittlerweile in vielen größeren Museen eingerichtet wurde, können wir uns gar nicht leisten, daher sind wir bei dieser Aufgabe zwingend auf Hilfe von außerhalb angewiesen.“ Die dem Roentgen-Museum dann schließlich auch zuteilwurde dank der finanziellen Förderung – und in Person der renommierten Kunsthistorikerin Katja Terlau. Fünf Wochen lang arbeitete sich die Fachfrau aus Köln durch die – größtenteils noch nicht digitalisierten – Bestände und brachte trotz der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne bereits „sehr viel Licht ins Dunkel“, wie Stein betont.

Wobei die dadurch gewonnenen Erkenntnisse allein schon deswegen „extrem wichtig“ seien, „weil ich es als die Verantwortung der Museen betrachte, Transparenz in ihre Sammlungen zu bringen, um auf dieser Grundlage dann auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen zu können“, so die Direktorin. Und weil sich hinter den reinen Zahlen eben auch stets persönliche Schicksale verbergen, deren Rekonstruktion sich allerdings in vielen Fällen als überaus diffizil erweist.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist etwa das Hammerklavier von Christian Kintzing aus dem Jahr 1767, das 1939 von dem Neuwieder Komponisten Franz Julius Giesbert in München erworben wurde und 1972 als Schenkung in die Sammlung des Roentgen-Museums überging. Wem das Instrument vor Giesbert gehörte? War bislang nicht zu eruieren. „Das Klavier“, heißt es hierzu im Abschlussbericht, „lässt sich momentan keinem Fall bekannter Raubkunst zuordnen. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um solche handelt.“
Anhaltspunkte zwischen Unbekannten
Als „höchstwahrscheinlich belastet“ gilt hingegen ein Konvolut aus 28 Zinnobjekten, von denen man inzwischen weiß, dass sie dem Museum im September 1942 vom Neuwieder Finanzamt – vermutlich aus Beutebeständen – übergeben wurden. Die rechtmäßigen Besitzer konnten zwar auch in diesem Fall noch nicht ermittelt werden, doch inmitten vieler Sackgassen lassen sich durchaus immer wieder auch ganz konkrete Anhaltspunkte finden: Bei einem Aufsatzschreibtisch aus der Werkstatt von Georg Rudolph Gambs beispielsweise, der Terlaus Recherchen zufolge 1938 bei einer Auktion in Berlin für 3000 Reichsmark angeboten und 1940 durch den Antiquitätenhändler Wilhelm Gloose für das Roentgen-Museum angekauft wurde.
Besonders spannend ist bei dieser Provenienz schließlich der noch vorhandene Auktionskatalog aus dem Jahr 1938, in dem der Name „Überall“ in Verbindung mit dem Möbelstück auftaucht. Ein wichtiges Indiz, wenngleich bislang noch unklar ist, ob es sich dabei um den jüdischen Kunsthändler Heinrich Überall handelt, der später im KZ Sachsenhausen ermordet wurde – und ob er den Schreibtisch seinerzeit tatsächlich erworben hat.

„Wir werden die rechtmäßigen Eigentümer vermutlich in vielen Fällen nicht mehr ausfindig machen können“, sagt Jennifer Stein mit Blick auf die nur selten lückenlos vorhandene Provenienz der Objekte. Doch wo verwertbare Anhaltspunkte vorlägen, das sei ebenfalls klar, „werden wir natürlich auch weiter suchen, zum Beispiel beim Gambs-Schreibtisch“.
Für die hierfür notwendige Einzelfallprüfung will Stein nun weitere Fördergelder beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste beantragen. Alle Stücke aus der Dauerausstellung des Hauses, bei denen Verdachtsmomente identifiziert oder belegt werden konnten, sollen künftig zudem entsprechend gekennzeichnet und um eine Schilderung des aktuellen Stands der Provenienzforschung ergänzt werden, sagt die Direktorin, die das Thema auch 2028 exponiert abbilden will, wenn das Roentgen-Museum mit einer großen Ausstellung sein 100-jähriges Bestehen feiert.
„Es wäre natürlich schön, wenn im Land eine feste Stelle für Provenienzforschung eingerichtet würde.“
Jennifer Stein
Sollten einige der Objekte dann bereits nicht mehr in Neuwied sein, würde Stein das übrigens – so komisch es auch klingen mag – begrüßen, denn: „Sofern sich rechtmäßige Erben bei uns melden, worauf wir ausdrücklich hoffen, werden wir ihnen die Objekte auf Wunsch natürlich zurückgeben – das ist ganz selbstverständlich und gemäß den Washingtoner Prinzipien von 1998 auch unsere Pflicht“, betont sie und verweist darauf, die nun identifizierten Verdachtsfälle zeitnah zudem in die sogenannte Lost Art-Datenbank einstellen zu wollen, „damit sie dort für jeden auffindbar sind“.
Als wichtigen Beitrag in Sachen Provenienzforschung indes betrachtet die Museumsleiterin das Pilotprojekt schon jetzt, ganz unabhängig von allen noch folgenden Entwicklungen: „Es war neben den konkreten Ergebnissen auch gut, um aufzuzeigen, welche Bedarfe es in kleineren und mittelgroßen Museen gibt“, sagt sie – und ergänzt: „Wenn solche Verdachtsfälle auftauchen, fühlt man sich erst mal ein bisschen hilflos, weil uns einfach auch die Erfahrung im Umgang damit fehlt. Daher wäre es natürlich schön, wenn im Land eine feste Stelle für Provenienzforschung eingerichtet würde, bei der man Beratung und Unterstützung erhält.“
Was ist Provenienzforschung?
Provenienz bedeutet – von lateinisch „provenire“ („herkommen“) – zunächst einmal nichts anderes als Herkunft. Die Provenienzforschung als Disziplin beschäftigt sich folglich mit der Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern. Im besten Fall sind in deren „Stammbaum“ alle früheren Besitzverhältnisse (Provenienzen) nachvollziehbar und bekannt – in der Realität jedoch verhält es sich oft anders. In Deutschland etwa stellen vor allem jene Kulturgüter Herausforderungen dar, deren (meist jüdische) Besitzer während der NS-Zeit (1933–1945) enteignet wurden; Raub- und Beutekunst aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten sind ein weiteres komplexes Themenfeld. Und auch die öffentliche Debatte über die Restitution afrikanischer Kulturgüter aus der Kolonialzeit hat in den vergangenen Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen. Wobei die Provenienz schließlich auch auf dem regulären Kunstmarkt von Bedeutung ist, etwa, um die Echtheit eines Werks zu dokumentieren oder Fälschungen aufzudecken.