Eigentlich will Marius Müller-Westernhagen das Lied an diesem Abend nicht mehr spielen. Er habe es zu oft gesungen. Es habe sich verbraucht, abgenutzt, erzählt er den 13.000 Zuhörern im Halbrund vor der Loreley-Festbühne, die ihm jetzt schon fast zwei Stunden lauschen, mit ihm singen, feiern. Die gerade eben noch „Oh wie ist das schön“ jubilierten. Und von denen jetzt immer wieder einige „Freiheit“ rufen – den Titel von Westernhagens fast schon ikonischer Hymne.
Dann predigt Westernhagen doch. Er spricht von der Welt da draußen, die verrückt geworden sei, von den Kriegstreibern, den Menschen, die nur noch auf ihr Smartphone starrten und darin die Wahrheit suchten. „Wir müssen wieder miteinander reden“, sagt der Musiker und singt dann von der Freiheit – „die Einzige, die fehlt, das Einzige, was zählt“. Die Tausenden stimmen mit ihm ein.
Zwei Stunden vorher rechnen wohl viele der Fans auf der Loreley nicht damit, dass die 75-jährige deutsche Rocklegende so lange durchhalten wird. Viele sind froh, dass Westernhagen überhaupt wieder auf der Bühne steht. Gleich mehrere Konzerte hat er wegen einer hartnäckigen Infektion, so hieß es vom Management, absagen müssen. So hat der Auftritt am Freitagabend auch etwas Befreiendes – für den Musiker und seine Fans.
Wie groß die Ungeduld, die Vorfreude auf die Rückkehr des Rockers ist, spürt man deutlich. Die mit ihrem Star sichtlich ergrauten Fans wippen, tänzeln und pfeifen zur souligen Musik von James Brown und Janis Joplin, die ihnen das Warten versüßen soll. Aretha Franklin schreit „Think!“ und einige rufen „Lauter!“. Als dann das Westernhagen-Intro „Waiting for my man“ von Velvet Underground ertönt, haben einige den sehnsüchtig Erwarteten schon backstage entdeckt. Wenig später stolziert er im cremefarbenen Outfit auf die Bühne. Jubel.
Marius röhrt das „Alphatier“
Die Nahaufnahmen seines Gesichts auf dem riesigen Bühnenmonitor sind schonungslos ehrlich, zeigen die Spuren seiner Lebensjahre, oder sind es die seiner Infektion? Egal, Marius röhrt das „Alphatier“ ins Mikro und pulverisiert sofort alle Sorgen, er könne noch nicht wieder oder nicht mehr fit genug sein für den schweißtreibenden Rock 'n' Roll. Die ersten Songs wirken wie ein Befreiungsschlag nach Wochen der musikalischen Zwangspause. „Ich will raus hier“ und „Ich bin fertig mit Dir“, schreit Westernhagen.
Getragen wird der Rocker dabei von den bombastischen und auch filigranen Klangteppichen seiner Band, die offenbar Nachholbedarf hatte. „Ich war zwischendurch ein bisschen krank. Wir mussten viele Konzerte leider absagen. Das merke ich heute an der Band. Die sind ja bescheuert. Jesus Christ. Ihr bringt mich um“, sagt Westernhagen und lacht.
Dann singt er geradezu trotzig und stolz: „Mach Dir keine Sorgen. Es geht mir gut.“ Und ja: „Wir werden uns was borgen. Und wieder jung aussehen.“ Borgen braucht sich der Altrocker nichts. Er schwingt wie eh und je die Hüfte, wieselt über die Bühne, tänzelt mit Gitarrist, Percussionistin und Backgroundsängerin, dreht sich am Ende des Songs mit dem Rücken zum Publikum, hebt den Anzug leicht hoch und wackelt mit dem Po.
Es gibt sie noch, es gibt sie immer mehr in diesen Zeiten: die ewig jungen, nur äußerlich alternden Rocker. Keith Richards und Mick Jagger lassen grüßen. Sie sind so was wie die Gentleman-Rocker. Westernhagen ist mit 75 längst in dieser Riege angekommen. Sein Reibeisen-Röhren – Markenzeichen seit den „Pfefferminz“-Zeiten in den 70ern – scheint im Alter eher noch gereift zu sein. Oder tragen seine Stimmbänder an diesem Abend noch Spuren der Infektion?
Ein Fan sagt nach dem Konzert: „Seine Stimme ist nicht immer gewaltig, aber er ist ein grandioser Liedermacher.“ Korrigiere: Er hat eine unverwechselbare Stimme, was ihm als Sänger allein Größe verleiht. Doch noch mehr gilt dies für seine Liedermacherqualitäten. Sein Repertoire ist längst zum deutschen Kulturgut geworden. Schon in den 70ern und 80ern brüllten wir Songs wie „Mit 18“ oder „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ auf den Partys oder sangen „Johnny Walker“ zum Gitarrenspiel des Kumpels am Lagerfeuer.
Einige der schönsten Liebeslieder
Doch Westernhagen vermag es bis heute, über den Rock 'n' Roll auch die ernsten, gesellschaftskritischen Themen zu transportieren. Das gelang ihm bereits in den 70ern mit Songs wie „Alles in den Wind“ über die Tragik des Alkoholismus. Und natürlich stammen aus seiner Feder einige der schönsten deutschsprachigen Liebeslieder wie „Weil ich dich liebe“ und Hymnen wie „Lass uns leben“. Sie dürfen an diesem Abend ebenso wenig fehlen wie das Duett mit seiner 30 Jahre jüngeren Ehefrau Lindiwe Suttle. „Man traut es mir nicht zu, aber das ist meine Frau.“
Diese Selbstironie verfängt beim Publikum. Überhaupt hat sich Westernhagen von seinen Attitüden, seiner manchmal moralinsaueren Affektiertheit früherer Jahre befreit. Nach einer Stunde wird er tiefsinnig: „Die Tour fühlt sich anders an. Sie ist so unglaublich emotional. Ihr habt keine Ahnung, wie dankbar ich bin – dankbar, dass ihr gekommen seid. Es fühlt sich nicht an, als seien alle unfassbar verrückt. Es fühlt sich alles unfassbar echt an.“ Dann singt er „Alles in den Wind“ von 1978 – im Chor vieler Zuschauer. Westernhagen, so scheint es, hat sich selbst befreit, indem er das Gestern mit dem Heute verbindet, ohne sich in rührseliger Nostalgie zu verlieren.
Dann singt er „Freiheit“. Am Ende geht er von der Bühne, Band und Backgroundsängerinnen spielen weiter, verwandeln den Song in einen Gospel. Die Menge tanzt. In einem Interview hat Westernhagen einmal gesagt: „Freiheit ist eine Illusion. Wahrscheinlich ist man nur frei, wenn man nichts mehr will, wenn man keine Wünsche und Ansprüche mehr hat. Sondern einfach nur zufrieden ist.“ Wie an diesem Abend.