Hella Prokoph hat den nur drei Akteuren die riesige Bühne als Baustelle hergerichtet. Gerüste, Abdeckplanen, Farbtöpfe – Schauspieler Sebastian Brandes lamentiert zu Anfang entnervt „hier ist ja noch gar nichts fertig“. Als endlich seine beiden Kollegen eintrudeln, kann es noch immer nicht losgehen mit dem „Werther“.
Wie soll man das spielen?
Schließlich ist das avisierte Stück selbst eine Baustelle. Weil: Goethe hatte 1774 eben kein Bühnendrama verfasst, sondern einen Roman, bestehend vorwiegend aus Briefen an einen Freund, in denen der Herr Werther seinen Weg von glückseliger Liebeshoffnung in die Liebeshölle schildert. Wie soll man das spielen? Und wie den geistig-moralischen Kontext des 18. Jahrhunderts so transformieren, dass jenes tragische Geschehen unsereinem und mehr noch jungen Menschen heutzutage etwas anderes abringt als bloß kopfschüttelndes Mitleid für einen musealen Fall? Dies sind wohl Grundfragen, die Regisseurin Brit Bartkowiak an die Produktion gestellt hat. Und mit denen schlägt sich das Spieltrio nun auf offener Bühne und teils ans Publikum gewandt, durchaus auch humorig, herum – bevor und während es peu à peu in die eigentliche Werther-Story hineingleitet.
Dieser Prozess des Eindringens in den Roman ist ein Faszinosum. Man versucht es erst mit Vorlesen; dann mit Lesen nach verteilten Rollen, was indes noch nicht zur Figurenzuordnung führt, weil halt alle drei nur Werthers Schreiberei rezitieren. Schließlich mutieren sie schier unmerklich zu Romanfiguren: Julian von Hansemann gibt anfangs einen frisch-frechen, etwas hippiesken Werther, Lisa Eder eine selbstbewusste Lotte und Sebastian Brandes den zu bürgerlicher Behäbigkeit neigenden Albert. Erst noch häufiger, nachher immer seltener, treten sie aus diesen Rollen heraus, um neuerlich als Leute von heute dies und das zu diskutieren.
Zum tragischen Finale steckt die Inszenierung, obwohl äußerlich in der Gegenwart bleibend, dann gänzlich im Roman. Doch kein Zuschauer schüttelt den Kopf oder spöttelt über das abgrundtiefe, völlig unvernünftige, im Suizid endende Liebeselend des Titelhelden: Die Regie sowie die grandios zwischen alltäglicher Beiläufigkeit und kunstvoll konzentrierter Herzensbewegung changierende Spielweise des Trios haben die Zuschauer mit sensibler Hand hingeführt zum Begreifen, vielleicht gar Mit- oder Nachfühlen von Werthers nun gar nicht mehr so antiquiert erscheinendem Schmerz. Denn: Alle drei sind unseresgleichen. Dazu gehört, dass Lotte und Werther einander auf verspielte bis kiebige Weise näherkommen – derweil ihr Verlobter „auf Dienstreise“ dem Publikum im Brustton kleinbürgerlicher Naivität etwas von unbedingter Treue erzählt.
Eine Ménage-à-trois?
Dazu gehört in jetziger Zeit, dass Lotte alias Lisa sich emanzipativ beklagt über den männlichen Ich-ich-ich-Egozentrismus Werthers. Dazu gehört ebenso eine wunderbare Szene, in der Lotte die beiden um sie buhlenden Männer in eine Ménage-à-trois, eine Dreierbeziehung, locken möchte. Diese Idee lässt sich beim Roman durchaus zwischen die Zeilen interpretieren – Goethe hat sie ein Jahr später in der Urfassung des Trauerspiels „Stella“ noch deutlicher aufgegriffen, dann aber nach Warnungen Schillers vor einem öffentlichen Skandal getilgt.
Selbstredend wird während der 115 pausenlosen Minuten dieses Abends auch ein bisschen poppig musiziert und geschwoft. Das passt, wir haben es halt mit jungen Menschen zu tun.
Und es passt hier auch, was bei anderen Gelegenheiten in den Theatern oft an den Haaren herbeigezogen wirkt: Die Benutzung von Kameras, um bewegte Gesichter in Großbildformat auf Leinwände zu projizieren. Als Werther weggeht, um Lotte aus seinem Herzen zu verbannen und die konventionelle Zweisamkeit von ihr und Albrecht nicht zu stören, taucht ihr Antlitz bald doch wieder vor seinem inneren Auge auf – bis er unentrinnbar von ihren Abbildern umzingelt ist. Was bleibt ihm? „Sterben – schlafen ...“: Werthers letzte Sätze stammen in Mainz aus William Shakepeares Hamlet-Monolog. Und das passt ebenfalls.
Weitere Termine und Infos zum Stück gibt es unter www.staatstheater-mainz.com