Schauspielpremiere Koblenz
Wenn soziale Netzwerke reden könnten 
Schauspielerin Paula Schindler (Lenz) gibt in "Lenz geht live" einen starken Einstand am Theater Koblenz.
Matthias Baus für das Theater Koblenz

In „Lenz geht live“, dem neuen Stück der jungen Dramatikerin Elisabeth Pape, wird am Theater Koblenz in der Regie von Marie-Theres Schmidt aus Motiven nach Georg Büchners Novelle die eindringliche Schilderung psychischer Probleme einer jungen Frau. 

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Zugegeben: Beide Hauptfiguren in Georg Büchners Novellenfragment „Lenz“ (posthum 1839 veröffentlicht) sind eigentlich Männer, beschrieben wird der psychische Verfall des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz während seines Aufenthalts im Gebirge und in der Fürsorge des Geistlichen Johann Friedrich Oberlin. Das Geschlecht dieser Figuren ist aber längst nicht das Einzige, was die Dramatikerin Elisabeth Pape abgeändert hat in ihrem Stück „Lenz geht live“ nach Motiven Büchners, das am Theater Koblenz gezeigt wird.

Die junge Autorin (Jahrgang 1995) klopft den „Lenz“-Stoff auf Themen für ein heutiges Publikum ab – und korrigiert dabei den Fokus der Entstehungszeit auf männliche Protagonisten. Nachdem Frauen neben der damals Aufsehen erregenden Schilderung psychischer Ausnahmezustände von Goethes Werther oder Büchners Lenz nur als Randfiguren vorkamen, ist diese Marginalisierung in „Lenz geht live“ aufgehoben, man erlebt also eine junge Frau namens Lenz in Nöten.

Genialer Kniff der Produktion: In "Lenz geht live" wird wie in aufeinanderfolgenden Instagram-Stories erzählt, was im Bühnenbild von Christina Poitner (Kostüme: Carolin Quirmbach) vielschichtig umgesetzt wird.
Matthias Baus für das Theater Koblenz

Auch recht, denn obwohl von Büchners „Lenz“ hier nur ein zentrales Grundthema und einige Handlungspunkte erhalten bleiben, ist „Lenz geht live“ im Kern ganz nah am Ausgangsstück: Durch die Rhythmisierung der Handlung mithilfe der Kommunikation in den sozialen Netzwerken ist die Zerrissenheit beibehalten, die „Lenz“ auszeichnet. Ganz wie in der durch Büchners frühen Tod unvollendet gebliebenen Novelle tauchen einzelne Stationen wie fetzenhafte Ausschnitte auf, sind aneinandergereiht wie Instagram-Stories – und werden in diesem Stil auch im Bühnenbild von Christina Poitner umgesetzt. Auf transparente Stoffvorhänge werden Videos projiziert, die Lenz für ihre Follower aufnimmt, wenn sie von der Gebirgslandschaft schwärmt, aber auch von ihren seelischen Nöten berichtet.

Ein echtes Gimmick der Inszenierung von Marie-Theres Schmidt sind die Live-Chatverläufe der Onlinegemeinschaft, die die Reise von Lenz und die psychischen Probleme der jungen Frau kommentieren. Die Wortmeldungen stellen nicht nur das oft übergriffige Verhalten Kommentierender zwischen Anteilnahme, Voyeurismus und Geltungsdrang aus, sondern werden zusätzlich zur projizierten Textnachricht auch noch, von verschiedenen Stimmen gesprochen, eingespielt. Wenn dann eine ganz junge Stimme beispielsweise die dazugehörige Textnachricht „Ich bin Psychiater ...“ der Lüge überführt, wird die Inszenierung zum ganz eigenen, vielschichtigen Erlebnis.

Wenn hinter Wellness-Wortgirlanden doch Tiefe aufblitzt: Jana Gwosdek ist als Livecoach Oberlin zwischen Waldbaden und Yoga ein Erlebnis.
Matthias Baus für das Theater Koblenz

Lenz (die online als KOB_LENZ agiert) hat trotz ihrer Probleme keinen Therapieplatz erhalten – das schließt an aktuelle Diskussionen über die mangelhafte Versorgung mit psychologischer Hilfe in Deutschland an. Hilfe sucht sie bei einer Frau, die im Internet als Lebenscoach bekannt ist: Oberlin (oder OH_BERLIN) rückt auch schwersten Krankheitssymptomen mit Mitteln aus der Wohlfühlecke zwischen Waldbaden und Yoga zu Leibe. In diesen Szenen verarbeitet Autorin Elisabeth Pape die im Internet massenhaft anzutreffende Realität mit viel Gespür für feine Satire in kunstvoll gedrechselte Phrasengirlanden.

Wie Jana Gwosdek diese Oberlin mit bewundernswerter Nonchalance spielt, dabei hinter all dem Wellness-Wonne-Ton doch Tiefe erahnen lässt – das ist großes Theater auf der kleinen Probebühne IV. Und das findet seine Entsprechung in der Leistung von Paula Schindler als Lenz, die damit zum ersten Mal am Theater Koblenz auftritt, wo sie ab kommender Spielzeit zum Ensemble gehört. Mit ihrer facettenreichen Darstellung gibt sie einen bärenstarken Einstand, überzeugt auch sängerisch, was sie in den sehr zahlreich eingestreuten „lyrischen Posts“ beweist (Musik: Christian Meyer): epische Stimmungsinseln, die in ihrer Vielzahl das Stück auf 100 pausenlose Minuten dehnen.

Termine und Tickets unter www.theater-koblenz.de