Neues Buch von Rabea Weihser
Was unser Gesicht über die Welt verrät
Ein eigenes, sehr lesenswertes Kapitel in der Entwicklung der Menschheit nimmt die Geschichte unseres Gesichts und der damit verbundenen Schönheitsideale ein. Rabea Weihser hat diesem Thema ein Buch gewidmet.
Fabian Raabe. Diogenes Verlag

Warum war Sonnenbräune früher verpönt? Untergräbt Social Media den emanzipatorischen Fortschritt? Und sind bald nur noch „Cyberkörper“ schön? Diese und weitere Fragen beantwortet Rabea Weihser in ihrem neuen Buch – und uns vorab im Interview.

Aktualisiert am 26. Februar 2025 16:27 Uhr

„Das Gesicht ist ein faszinierender, knallbunter Spiegel unserer Welt“, schreibt Rabea Weihser – und liefert hiermit bereits eine ziemlich prägnante Inhaltsangabe ihres Buchs, denn: In „Wie wir so schön wurden“ rekonstruiert die Journalistin und Autorin nicht nur die Kulturgeschichte des menschlichen Gesichts, sondern zeigt auch auf, wie sich Schönheitsideale über die Jahrhunderte verändert haben und was sie über uns und unsere Gesellschaft verraten. Wir haben mit Weihser im Vorfeld der Veröffentlichung gesprochen.

Frau Weihser, wir sind uns vor diesem Videotelefonat noch nie begegnet, haben erst wenige Worte miteinander gewechselt – und doch könnten Sie durch den Blick in mein Gesicht bereits erste Schlüsse ziehen auf meine Persönlichkeit. Welche zum Beispiel?

Menschen können in Gesichtern sehr viel ablesen. Merkmale wie Alter und Geschlecht natürlich, auch den Gesundheitszustand und die Lebensumstände, also, welchem Stress eine Person ausgesetzt ist, ob sie genug schläft, sich gut ernährt, ob sie viel lacht oder Sorgen hat. Nach solchen Anhaltspunkten suchen wir ganz unwillkürlich, wenn wir in ein anderes Gesicht schauen, weil unser ganzes Dasein auf sozialem Austausch beruht. Aber wir dürfen nicht der Versuchung nachgeben, hieraus zu detaillierte Aussagen über die Persönlichkeit abzuleiten.

Zugleich verrät unser Gesicht auch viel über die Gesellschaft, in der wir leben. Über die jeweiligen Schönheitsideale etwa, die sich im Laufe der Jahrhunderte teils erheblich gewandelt haben.

Ja, weil es einerseits starke kulturelle Konjunkturschwankungen gab, andererseits aber auch biologische Konstanten. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass als attraktiv gilt, was sexuelle Reproduktionsfähigkeit und Gesundheit verspricht: Jugend, Robustheit, glatte, ebenmäßige Haut, glänzendes Haar. Bei Frauen vor allem auch große Augen, kleine Nasen und volle Lippen, bei Männern markante Brauen- und Kieferknochen. Interessant wird es allerdings, wenn die kulturellen Moden diesen Konstanten widersprechen. In der Renaissance und im Barock wurden zum Beispiel sehr kleine, puttenähnliche Frauenmünder als schön wahrgenommen, ebenso in den Roaring Twenties.

„Die sozialen Netzwerke produzieren so viele Bilder von optimierten Körpern, dass sich beim Publikum allmählich das Gespür dafür verschiebt, wie eigentlich ein durchschnittlicher, also völlig annehmbarer Mensch aussieht.“
Rabea Weihser über die aufpolierte Social-Media-Welt und deren Folgen

Als zentraleuropäisches Ideal galt zudem jahrhundertelang eine ebenmäßig getönte, blasse Haut, weil sich die soziale Elite auf diese Weise von der im Sonnenlicht arbeitenden Bevölkerung abgrenzte. Anfang des 20. Jahrhunderts kam dann wiederum die Sonnenbräune in Mode, wohingegen sich die Menschen heute von schädlicher UV-Strahlung abschirmen und stattdessen Sommersprossen ins Gesicht malen, um Vitalität und Lebensfreude zu suggerieren. Grundsätzlich zeigt sich im Rückblick: Jede Gesellschaft, jede Zeit definiert für sich, wie viel künstliche Gestaltung sie für akzeptabel oder erstrebenswert hält, wobei wir im Moment eine Hochphase der Künstlichkeit erleben.

Inzwischen werden Schönheitsideale – und in der Folge auch das Erscheinungsbild unserer Gesichter – vor allem von den sozialen Netzwerken bestimmt. Was hat sich durch deren zunehmenden Einfluss verändert?

Schönheitskultur ist ein milliardenschweres Geschäft – und Influencer sind Teil davon. Die sozialen Netzwerke produzieren so viele Bilder von optimierten Gesichtern und Körpern, dass sich beim Publikum allmählich das Gespür dafür verschiebt, wie eigentlich ein durchschnittlicher, also völlig annehmbarer Mensch aussieht. Das allgegenwärtige Ideal schnurrt heute zusammen auf die biologischen Konstanten des männlichen und weiblichen Fortpflanzungstheaters. Heißt: Ausgerechnet jetzt, da der Arterhalt nicht mehr von übergeordneter Bedeutung ist, finden viele Menschen offenbar Sinn darin, sich zu stylen, als sei der optimale Genpool ihr wichtigstes Merkmal.

Wobei diese Entwicklung ja auch viel mit Massenpsychologie zu tun hat, mit empfundenen Zwängen und dem Wunsch, dazugehören zu wollen. 

Absolut, und der damit einhergehende Druck ist durch die Gleichförmigkeit der Bilder in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich gestiegen. Vor allem die jüngere Generation verbringt heute mehrere Stunden täglich in Bildwelten, die bevölkert sind von Menschen, die ihr naturgegebenes Aussehen teils drastisch verändert haben. Dadurch fehlt inzwischen ein ganz wichtiges Korrektiv, das für Menschen seit Jahrtausenden ein psychosozialer Anker war, nämlich, sich selbst innerhalb der Normalverteilung echter Menschen zu verorten und dabei festzustellen: „Ich bin eigentlich gar nicht so weit entfernt vom Durchschnitt.“ Das ist ganz wichtig, um nicht – wie so viele Jugendliche heute – in einer gefährlichen Spirale aus Selbstzweifeln zu versinken.

„Die Normalisierung des gebauten Menschen findet längst statt.“
Rabea Weihser

Die britische Philosophin Heather Widdows spricht in diesem Kontext sogar davon, dass unser Schönheitsideal mittlerweile die Funktion einer eigenen Ethik eingenommen hat.

Heather Widdows vergleicht die heutige Beautykultur mit einer Religion, die alle, die sich den Regeln und Normen nicht beugen wollen, ausschließt und sozial sanktioniert. Der Spiegel ist der Hausaltar dieses ästhetischen Kults, und die Normen werden immer strenger und aufwendiger zu erfüllen, es gibt immer mehr Produkte, mehr Techniken. Wer sich nicht bemüht, jung, schlank, gesund und sexuell verfügbar auszusehen, ist raus. Woher das Geld und die Zeit dafür kommt? Dein Problem. Dabei gibt es wie in jeder Glaubensgemeinschaft natürlich auch hier sinnstiftende Elemente: Gruppenzugehörigkeit etwa, Austausch über Praktiken und Techniken, gegenseitige Anteilnahme und Unterstützung. Der große Anpassungsdruck allerdings bedingt auch Verunsicherung, Überkonsum und persönliches Unglück.

Nun finden wir auf der anderen Seite aber ja auch Entwicklungen wie die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Emanzipationsbewegung, die Auflockerung von typischen Geschlechterbildern oder das Streben nach individuellem Ausdruck. Inwiefern wird all das letztlich konterkariert durch diesen immer enger werdenden ästhetischen Normkorridor?

Dass sich Menschen für ganz individuell halten, während sie im Endeffekt doch alle das Gleiche tun, führen uns die sozialen Netzwerke täglich vor. Wir alle suchen eben Gruppen von Gleichgesinnten, in denen wir uns anerkannt fühlen. Man spricht hier auch von „Tribes“, von kleinen, fast archaischen Zusammenrottungen also. Wobei interessant ist, welche Tribes aus der Nische in den Mainstream gelangen und dort kulturelle, soziale oder politische Macht entfalten können. Fortschrittliche liberale Demokratien basieren zum Beispiel auf der Gleichheit aller Menschen. Also sollen sich bitte auch männlich gelesene Personen so schminken dürfen, wie sie wollen. Früher war das dem Tribe der Dragqueens vorbehalten. Heute entspricht die freie Selbstentfaltung einem gesellschaftlichen Konsens, also sehen wir auch Beauty-Influencer aller Geschlechter – und das ist eine positive Entwicklung. Doch es wäre zynisch, von Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen, nur weil der Schönheitsdruck, unter dem Frauen seit Jahrtausenden leiden, nun auch Männer in die Zange nimmt. Denn im Großen und Ganzen wird sich der Normkorridor vermutlich auch in Zukunft für alle weiter verengen auf potenziell ausgrenzende Ideale wie jung, hübsch, schlank und gesund.

Im Buch schreiben Sie auch über die britische Modeschöpferin Pat McGrath, die vor allem für die Optimierung glatter Hautoberflächen bekannt ist und ihre Models in Paris 2024 mit einer filmbildenden Gelmaske auf die Straße schickte. Beobachter fühlten sich damals an Bilder aus Science-Fiction-Filmen erinnert. Ist das also unsere Zukunft?

Unsere Zivilisierung ist eine Geschichte technischer Hilfsmittel; Veränderungen des menschlichen Körpers gehören dazu. Aber die Angst vor einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft ist nicht ganz unberechtigt: Einerseits die „Cyberkörper“ von Menschen, die genug Ressourcen haben, um sich operativ und medizinisch rundum zu optimieren und ihr Leben übermenschlich zu verlängern. Andererseits diejenigen, die sich das nicht leisten können und daher von jeder sozialen, politischen und ökonomischen Macht ausgeschlossen sind. Das klingt ein bisschen nach Science-Fiction, doch wenn man sieht, wie rasant die Zahl ästhetisch-chirurgischer Eingriffe in den vergangenen Jahren gestiegen ist und wie sich die Techniken aufgrund der großen Nachfrage verbessert haben, wird deutlich: Die Normalisierung des gebauten Menschen findet längst statt. Insofern ist es wichtig, die Vergangenheit und Gegenwart unserer Gesichter zu verstehen, um auch die Zukunft ethisch verträglich mitgestalten zu können. Und von dieser Hoffnung handelt mein Buch.

Rabea Weihser: „Wie wir so schön wurden – Eine Biografie des Gesichts“, Diogenes, 352 Seiten, 26 Euro. Zum Buch wurde zudem ein Bilderdossier veröffentlicht unter www.rabeaweihser.de/bilderzumbuch