Kultur
Warum wir heute ihre Blütezeit erleben: Das Geheimnis der Freundschaft
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Würden die 2231 Freunde, die man auf Facebook angesammelt hat, einen im Ernstfall auch im Krankenhaus besuchen? Nun, hoffentlich nicht. Dennoch legt eine solche von Facebook-Kritikern häufig vorgetragene rhetorische Frage den Finger in die Wunde. Was bedeutet es, bei einer kommerziellen und, wie inzwischen hinlänglich bekannt ist, recht dubiosen Plattform miteinander befreundet zu sein? Wird der Begriff der Freundschaft völlig entwertet, wenn er nur noch quantitativ gedacht wird?

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Unser Autor Wolfgang M. Schmitt widmet sich zum Tag der Freundschaft der Frage, was eben jene ausmacht und wie sie über Jahrhunderte definiert wurde.

Aber auch jenseits von Facebook ist zu fragen: Was meint Freundschaft in distanzlosen Zeiten, in denen allenthalben überschwängliche Begrüßungsrituale zu beobachten sind? Flüchtige Bekannte fallen sich da in Bussen, Bars und auf Straßen in die Arme, als hätten sie einander für verschollen gehalten. Am heutigen internationalen Tag der Freundschaft drängen sich solche Überlegungen auf. Doch was, wenn wir derzeit nicht das Ende, sondern die Blütezeit der Freundschaft erleben?

Der Hang zum Individualismus ist heute größer denn je. Vom Ausbruch, Neuanfang, von der Selbsterfindung handeln die großen Erzählungen unserer Gegenwart, was zugleich bedeutet, dass familiäre, oft mit Zwang verbundene Wurzeln gekappt und heimatliche, für viele als einengend empfundene Strukturen verlassen werden. Wer irgendwo neu beginnen muss oder will, braucht Freunde, um nicht zu vereinsamen.

Das Gegenteil von Freundschaft ist nicht die Liebe, sondern die Familie. Montaigne, der französische Freigeist aus dem 16. Jahrhundert, findet in seinem Freundschaftsessay deutliche Worte: „Dies ist mein Sohn, dies mein Verwandter – na und? Deswegen kann er trotzdem ein grober Klotz sein, ein Trottel oder ein Bösewicht. Und überdies: Je mehr Gesetz und natürliche Pflicht solche Bindungen auferlegen, desto weniger hat unsere Wahl- und Willensfreiheit Anteil daran. Nichts hingegen ist so voll und ganz das Werk unseres freien Willens wie Zuneigung und Freundschaft.“ Das heißt, wo sich familiäre Bindungen lösen, werden Freunde wichtiger. Noch vor wenigen Jahren war es beispielsweise undenkbar, Weihnachten mit seinen Freunden anstatt mit der Familie zu feiern, mittlerweile ist das keine Seltenheit mehr.

Selbst Platon scheitert mit einer Definition der Freundschaft

Was aber genau ist Freundschaft? Hier liegt bereits das Problem, denn das abendländische Nachdenken über das, was ein Freund ist oder sein sollte, beginnt mit einem furiosen Scheitern. Der griechische Philosoph Platon lässt in seinem Freundschaftsdialog „Lysis“ den weisen Sokrates im Gespräch mit zwei Knaben eine Vielzahl von Definitionen erörtern und wieder verwerfen, bis er schließlich gestehen muss: „Diesmal, o Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich der alte Mann, und ihr.“ Endgültige Bestimmungsversuche wollen nicht gelingen – das spricht für die Magie der Freundschaft. Ob allein der Nutzen einer Freundschaft zählt, wie wichtig die Tugendhaftigkeit des Freundes ist oder ob man im Freund in erster Linie sich selbst sieht und verehrt, bleibt offen. Auffällig aber ist, dass in dem homoerotischen Ambiente des Dialogs noch nicht wie heute üblich zwischen Freundschaft und Liebe strikt unterschieden wird. Die Übergänge sind fließend.

Dass Freundschaft jedoch beständiger als Liebe sein kann, wussten schon, als die Scheidungsraten noch niedrig waren, die Comedian Harmonists, wenn sie sangen: „Liebe vergeht, Liebe verweht, Freundschaft alleine besteht.“ Der römische Schriftsteller Cicero hätte dem beigepflichtet. In seinem Dialog „Laelius über die Freundschaft“ heißt es: „Ich kann euch nur mahnend dazu auffordern, die Freundschaft allen menschlichen Gütern vorzuziehen. Nichts ist nämlich unserer Natur so gemäß, so passend zu unseren Lebensverhältnissen, sei es im Glück oder im Unglück.“

So sehr die Definitionen von Freundschaft gewissen Moden unterworfen sein mögen, fest steht für alle Denker, dass ein Mensch ohne Freunde ein armer Tropf ist. Freundschaften sind beneidenswert. Niemand hat das besser gezeigt als Friedrich Schiller in seiner berühmten Ballade „Die Bürgschaft“. Darin bürgt ein Freund für den anderen – kommt jener, der zum Tode verurteilt ist, nicht rechtzeitig wieder zurück, wird dieser an seiner statt gehängt. Der tyrannische König lauert nur darauf, dass die Zeit verstrichen ist und das Todesurteil vollstreckt werden kann. Im letzten Moment erscheint der Freund. Der König ist ergriffen. Er hebt das Todesurteil auf und spricht: „Es ist euch gelungen,/ Ihr habt das Herz mir bezwungen;/ Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn –/ So nehmet auch mich zum Genossen an:/ Ich sei, gewährt mir die Bitte,/ In eurem Bunde der dritte!“

Vom großen Glück, den einen unter vielen zu finden

Wenn Freundschaft kein leerer Wahn ist, woher kommt sie dann? Montaigne schreibt von einer unerklärlichen „Schicksalsmacht“, die zwei Menschen freundschaftlich verbindet. Schiller wird diese Überzeugung in seinem Gedicht „Die Freundschaft“ mit Isaac Newtons Gravitationsgesetz pseudo-wissenschaftlich unterfüttern. „Glücklich! glücklich! Dich hab' ich gefunden,/ Hab' aus Millionen dich umwunden,/ Und aus Millionen mein bist du –/ Laß das Chaos diese Welt umrütteln,/ Durcheinander die Atomen schütteln;/ Ewig fliehn sich unsre Herzen zu“, jubiliert das lyrische Ich. Schiller schreibt das 1782, doch im Facebook-Zeitalter gewinnen die Verse ungeahnte Aktualität. Freundschaft wird hier im Singular gedacht, möglicherweise sind für Schiller auch zwei oder drei Freunde denkbar, sicherlich aber liegt sein Limit wesentlich tiefer als das von Facebook – die Plattform gestattet jedem Nutzer 5000 Freunde. Doch es kommt gestern wie heute darauf an, den richtigen zu finden: Aus Millionen wird in Schillers Gedicht einer erwählt; chaotisch und unübersichtlich war die Welt schon zu Zeiten des Sturm und Drang. Was bei Schiller die durcheinandergeschüttelten Atome sind, mögen heute die wahllos in der Timeline aufpoppenden Nutzerprofile sein. Dabei stellt sich eine gewisse Entfremdung gegenüber alten Freunden ein, die Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert so charakterisierte: „Wenn wir uns stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht verwandelten, zu Gespenstern unserer eigenen Vergangenheit: Ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns heran — als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter, ungereifter.“ Alte, meist aus guten Gründen aus den Augen verlorene Freunde, denen wir bei Facebook wiederbegegnen, erinnern tatsächlich an Gespenster einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Cicero empfiehlt, Freundschaften nicht abrupt, sondern peu à peu zu beenden. Facebook erschwert dies.

Doch zurück zu Schiller: Er besingt das große Glück, den einen unter vielen zu finden. Dabei können soziale Medien – auch wenn sie an sich unentgeltliche menschliche Beziehungen monetarisieren – tatsächlich helfen. Nicht länger wer beieinander wohnt, dieselben Lokale besucht oder gemeinsam dem Lohnerwerb nachgeht, muss der engste Freund werden. Im digitalen Raum verbinden sich Menschen mit gemeinschaftlichen Interessen – mögen diese noch so speziell sein – miteinander. Denn in einer wahren Freundschaft, so viel Definition darf nun doch sein, sehen sich die Freunde nicht nur gegenseitig an, sie richten ihren Blick auch auf ein gemeinsames Drittes. Das heißt, jede gute Freundschaft flieht nicht die Welt, sondern wendet sich ihr zu.