Zum heutigen Welttag des Buches verbreitet unser Gastautor einigen Optimismus zur Zukunft des Lesens
Viele Wege führen zum Lesen: Ein (mutmachender) Gastbeitrag zum Welttag des Buches
Mann liest Buch
Gute Nachricht zum heutigen Welttag des Buches: Auch jüngere Menschen lesen zuletzt wieder häufiger. Foto: Boris Roessler/dpa
Boris Roessler. picture alliance / dpa

Der 23. April gilt seit 1995 offiziell als Welttag des Buches, 24 Stunden lang wird die Kultur des geschriebenen Wortes gefeiert, dreht sich viel um Lesen, Bücher und die Rechte von Schriftstellern. Unser Gastautor Michael Jäckel, Soziologe und ehemaliger Präsident der Uni Trier, hat den Aktionstag zum Anlass genommen, um die Zukunft des Lesens einmal genauer zu beleuchten – und verbreitet dabei entgegen aller Unkenrufe einigen Optimismus.

Vor mehr als 15 Jahren betreute ich eine Doktorarbeit, die sich mit der Leseerfahrung in der Familie befasste. Die Autorin stellte ihrer Arbeit ein Zitat voraus, das angesichts jüngerer Entwicklungen als nach wie vor zutreffende Beobachtung eingestuft werden darf: „Lesen (…) ist immer eine Kunst gewesen, ein Können, das sich jeder einzelne Kopf, zumeist mit der Hilfestellung von anderen (…) mühsam hat erwerben müssen.“

Es stammt von einem Erzählforscher, der wichtige Arbeiten zur Geschichte des Lesens und zur Erzählform des Märchens vorgelegt hat: Rudolf Schenda. Der Begriff mag etwas aus der Mode gekommen sein, aber eine anhaltende, vielleicht zunehmende Faszination für Geschichten (auch solche mit Fantasie) passt in eine Zeit, die sich einer wachsenden Zahl von neuen (Entlastungs-)Technologien im Alltag bedient. Gern lässt man sich daher offenbar zum Ausgleich von interessanten Erzählungen ablenken.

Die ständige Sorge ums Lesen

Aber war da nicht auch ständig die Sorge um das Lesen an sich? Nahm nicht die Zahl derjenigen, die sich auf diese Kunst nicht einlassen wollten, ständig zu? Hatten nicht Fernsehen, Video und andere bildlastige Medien zu einer Spaltung der Lesegesellschaft beigetragen?

Nun: Unter den 12- bis 19-jährigen Jugendlichen hat das regelmäßige Lesen in den letzten Jahren etwas zugenommen: von 32 Prozent im Jahr 2021 auf nun 35 Prozent im Jahr 2023 (täglich oder mehrmals pro Woche ein gedrucktes Buch), einmal pro Woche gilt für ca. 21 Prozent konstant, einmal im Monat oder seltener lag 2023 bei 27 Prozent.

Konsumverhalten nach Corona
Michael Jäckel
Shiela Dolman/Universität Trier/

Unser Gastautor

Der Soziologe Michael Jäckel – geboren 1959 in Oberwesel (Rhein-Hunsrück-Kreis) – war von 2011 bis August 2023 Präsident der Universität Trier. Zu seinen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten zählen neben der Allgemeinen Soziologie insbesondere die Themenbereiche Medien- und Konsumsoziologie, Neue Kommunikationstechnologien und Arbeitsorganisation sowie die Soziologie der Zeit.

Von der „Kunst des Lesens“ nicht erfasst wurden im letzten Erhebungsjahr 17 Prozent – das ist also aktuell in etwa die Größenordnung der Nichtleser in diesem Alterssegment. Aber offenbar wird wieder mehr für das Lesen geworben, auch dort, wo es lange nicht erwartet worden wäre. Schauen wir also ein wenig auf die „Hilfestellung von anderen“, die in der einleitend zitierten Beobachtung ja auch Erwähnung fand.

Der deutsche Buchmarkt kennt vermehrt Orte, an denen es auch Bücher gibt – umgeben von vielen Accessoires. Aber die klassische Buchhandlung ist ja auch nicht verschwunden. Sie lebt fort, offeriert am „Point of Sale“ gleichwohl weniger Bücher als früher. Während die Welt da draußen immer unübersichtlicher erlebt wird, ist hier die Verkaufsfläche häufig reduziert worden.

Das Eintauchen in die Gedanken einer Autorin oder eines Autors hat etwas von einem privaten Dialog, in dem das Rauschen der anderen Medienwelt zwar nicht verschwindet, aber eben seltener unterbricht.

Michael Jäckel

Aus den Hardcover- und Taschenbüchern ragen aber nach wie vor die persönlichen Empfehlungen des Personals hervor. Meistens sind es lobende Worte, hier und da schlägt auch die Begeisterung durch. Im Vergleich zu den großen Buchtempeln der Großstädte umgibt diese vergleichsweise kleinen Orte zuweilen die Aura einer Höhle, die für Überraschungen gut sein kann. Wer hier eintritt, freut sich bereits auf den Rückzug. Auch ohne Ratschlag finden die meisten ihre Lektüre.

Lesen und Rückzug: In Alberto Manguels „Eine Geschichte des Lesens“ wird dem Lesen ein Denkmal gesetzt. Dem einsamen Lesen widmet er ein ganzes Kapitel. Lesen signalisiert in unterschiedlichen Situationen: Man möchte ungestört sein. Daher lobt sich ein Bibliothekspublikum auch Stille aus. Die Kraft dieser Institution lebt von der Einkapselung unter Gleichgesinnten. Lesen ermöglicht Einkehr und Abkehr. Das kann sichtbar realisiert werden, aber auch in sehr privaten Angelegenheiten wichtig sein. Das Lesen im Bett etwa sei „mehr als bloße[r] Zeitvertreib, nämlich eine bestimmte Form der Einsamkeit. Man zieht sich auf sich selbst zurück, lässt den Körper ruhen, macht sich unerreichbar und unsichtbar für die Welt.“

Die Kraft der Vorschläge

Als am Rande der diesjährigen Leipziger Buchmesse junges Publikum zu seinen Motiven befragt wurde, kam auch diese Faszination – „unerreichbar und unsichtbar für die Welt“ – zum Vorschein: Das Eintauchen in die Gedanken einer Autorin oder eines Autors hat etwas von einem privaten Dialog, in dem das Rauschen der anderen Medienwelt zwar nicht verschwindet, aber eben seltener unterbricht. Es können Geschichten sein, in denen man sich wiederfindet.

Früher traf man sich auch gelegentlich in einem Buchclub. Fern ist die Vorstellung, dass aufgrund einer Mitgliedschaft pro Quartal ein neues Buch erworben werden musste. Selbstverständlich wurden auch hier Vorschläge gemacht. Das macht seit vielen Jahren auch die Stiftung Lesen, die mit zahlreichen Ideen zum Stöbern einlädt, mit Schulen kooperiert und Vorlesefeste organisiert, zum Mitmachen einlädt und auf die Ausstrahlungseffekte von Vorbildern setzt.

Tolstois Erfolg dank Winfrey Empfehlung

Immer wieder also die Hilfestellung von anderen. So auch die Verkaufsplattformen im Internet mit ihren Hinweisen: „Das könnte Sie auch interessieren!“ oder „Dieses Buch wurde auch häufig gekauft!“ Zusatzkäufe sollen bewirkt werden. Im Vergleich zu dem Wirkungsradius, der nunmehr bestimmten sozialen Medien zugeschrieben wird, wohnt diesen Hinweisen heute bereits ein Hauch von Langsamkeit inne.

Vor 20 Jahren staunte die Welt über die Chancen eines interaktiven Buchclubs, den die US-amerikanische Talkmasterin Oprah Winfrey betrieb. Im Frühjahr 2004 zum Beispiel empfahl sie den Roman „Anna Karenina“ dem amerikanischen Fernsehpublikum als „summer reading“. Die Nachfrage nach der 862 Seiten umfassenden „Sommerlektüre“ stieg binnen Tagen sprunghaft an.

Die jetzt zu beobachtende Geschwindigkeit in der Kreation von Bucherfolgen auf sozialen Medien erstaunt und macht misstrauisch zugleich.

Michael Jäckel

Der Verlag erhöhte die Auflage auf 900.000, zuvor waren von einer Neuübersetzung des Tolstoi-Romans einmal gerade mal 15.000 bis 20.000 Exemplare verkauft worden. Ein Jahr zuvor hatte die Empfehlung der Talkmasterin bereits zu einer überdurchschnittlichen Nachfrage des Romans „Jenseits von Eden“ geführt. Zur Betreuung der Leserschaft gehörten auch präzise Leseanweisungen im Sinne von: „Bis morgen sollten Sie auf Seite 237 sein!“ So funktionierte „Oprah’s Pick“ („Oprah’s erste Wahl“) – ganz ohne automatisierte Internetbots.

Seit vielen Jahren beobachten wir nun auch Debatten über aussichtsreiche Kandidaten für Buchpreise – ein ausgeprägter Dialog zwischen Experten und Laien. Wieder ist eine Hierarchie am Werk. Blogger, die sich auf eine Auslese aus den neuen Titelangeboten konzentrieren, übernehmen die Rolle eines modernen Vorlesers, unterhalten und gestalten eigene Seiten im Netz, schaffen so Bühnen des Austauschs über Erzählformen. Am Ende geht es um Fragen von Erfolg und Misserfolg. Die Idee eines literarischen Cafés wird auf diese Weise ausgedehnt und auf mehr Beteiligung ausgelegt. Leserinnen und Leser werden, bevor sie diesen Modus praktizieren, zu einem „Mitsein“ eingeladen.

Orientierung durch Bestsellerlisten

Die jetzt zu beobachtende Geschwindigkeit in der Kreation von Bucherfolgen auf sozialen Medien erstaunt und macht misstrauisch zugleich, weil dieses Aushandeln von Qualität irgendwie ganz anders stattzufinden scheint: schrill, schnell, spektakulär. Und: Welche Voten werden hier eigentlich aggregiert? Wem dient also das Ganze? Ist es denn nur die Aufsummierung von Vorlieben, die diesen Markt steuert? Gibt es plötzlich nur noch Gewinner? Jedenfalls denken nun viele darüber nach, wie sie von diesen Nachfrageausschlägen profitieren können. Neue Weltliteratur sucht und findet sich in weltweiten Netzwerken.

Die Potenziale eines Medien-Cloning sind seit Langem bekannt. Etwas fasziniert und soll nun Teil der eigenen Welt werden. Und wieder zeigen sich Verhaltensweisen, die mit „Nachfragekonformität“ erfasst werden sollen. Bestsellerlisten sind eben mehr als ein Ranking von Präferenzen und Vorlieben. Sie dienen der Orientierung. Der Einzelne, nach seinem Warum befragt, wird das individuelle Gefallen hervorheben. Tipps können durchaus auch Anlass für gegenteiliges Verhalten sein. Was alle oder viele mögen, muss nicht jedem gefallen.

Bücher mit Inszenierungspotenzial

Letztlich wird besonders die Art der Botschaft und damit das „Inszenierungspotenzial“ betont, das Teil des Neuen und hier nun der Bücher/Texte geworden ist. Registriert wird eine Zunahme kollektiver Überraschungen durch „Likes“ oder andere Zustimmungssignale, die alle in eine bestimmte Richtung gehen. Zugleich teilen die Nutzerinnen und Nutzer mit, dass ihnen an einem Buch das Layout, die Farbgestaltung und so weiter gefällt. Form und Inhalt sind Teil dieser Allianz. Das Buch wird im privaten Umfeld offenbar Teil eines Ensembles, das die eigene Gefühlslage unterstützt.

Die Parallele zur Bücherwand, vor der man sich bis heute gerne zeigen und ablichten lässt, kommt einem in den Sinn. Auch so kann ein Teil des privaten Lebens öffentlich werden. Ein Ort, der dem eigenen Rückzug dient, wird zum Hintergrund des eigenen Profils. Man darf gespannt sein, welche neuen Kulissen das Lesen zu schaffen in der Lage ist. Das Ganze ist auch hier dann mehr als die Summe seiner Teile. So greift das Lesen als Mittel der Selbstverwirklichung offenbar wieder mehr um sich und Kunst dehnt sich aus.