Bühne Staatstheater bringt Björn Bickers Stück "Das letzte Parlament" im Plenarsaal zur Uraufführung
Uraufführung an ungewöhnlichem Ort: Aufruf zur Liebe im Mainzer Landtag

Mainz. Dieses Schauspiel stürzt den Zuseher, zumal den überzeugten Demokraten, in tiefe Nachdenklichkeit. Das Staatstheater Mainz hat für die Uraufführung von Björn Bickers Stück „Das letzte Parlament (Ghost Story)“ einen ungewöhnlichen Spielort gewählt: den realen Plenarsaal des rheinland-pfälzischen Landtages, derzeit wegen Sanierung des Stammhauses untergebracht im Mainzer Landesmuseum. Dort sitzt nun das Theaterpublikum auf Abgeordnetenplätzen und Tribüne – erlebt 90 Minuten schieren Abgesangs auf den heutigen Parlamentarismus.

Brücken, wie sie sich dem Stückschreiber an diesem Ort bieten, lassen sich nicht erfinden: Just in Mainz, wo 1792 das erste frei gewählte Parlament auf deutschem Boden entstand, tagt der Landtag 2018 im Museum. Zudem war dessen derzeit als Plenarsaal genutzte Steinhalle ab 1793 schon einmal ein Theater. Und ebendort wird nun die Geistergeschichte vom letzten auf Erden verbliebenen Parlament gespielt – als museale Institution, die mit der Realität nur noch durch die Erinnerungen einer blinden Landtagsstenografin verbunden ist.

Diese Zeitzeugin hat nie etwas gesehen, aber alles gehört und gefühlt. In silbrigem Gewand schwebt Kristina Gorjanowa leisen und bedachten Schrittes durchs Hohe Haus, berichtet von der Vergeblichkeit des Vertrauens darauf, dass die Abgeordneten die Geschicke der Menschen zum Besseren wenden. Sie spricht vom Parlamentsbetrieb, den Regisseurin Brit Bartkowiak in Spielszenen gießt, als bloß um sich selbst kreisende Maschinerie. Die Schauspieler Elena Berthold, Vincent Doddema und Klaus Köhler geben stellvertretend drei Abgeordnete. Zugespitzt karikieren sie eitle Selbstinszenierung im Plenum, abstruses Blabla um Grundsätzliches oder ziellose Verfahrensfragen, intrigante Politspiele via Twitter oder bemühte Volksnähe. Die blinde Seherin spürt die fortschreitende Sinnentleerung dieses Tuns, erkennt frustriert dessen wachsende Fremdheit gegenüber den Entwicklungen in der Gesellschaft.

Darüber empört sich und verzweifelt zugleich auf der Empore „der Geist der Demokratie“, dargestellt von Monika Dortschy. Sie beschwört in kratzigem Sprechfuror die alten, heiligen Demokratiewerte – über die zwei „rüstige Rentner aus Schifferstadt“ nur mehr hämisch lachen. Daniel Friedl und Martin Herrmann symbolisieren als lautstarke Zwischenrufer – mit Tablets als Instrument für den allfälligen Internet-Shitstorm in Händen – den Kleinbürger in all seinen Verlustängsten, Besserwissereien, seinem Hass auf die Protagonisten einer offenen Gesellschaft und auf alles Fremde.

Beide, Parlamentarier und Hassbürger, bekommen es immer wieder mit einer Schar Kinder zu tun. Der Kinderchor des Mainzer Cornelius-Konservatoriums spielt hier die Schüler einer von Schließung bedrohten Zwergschule, die das Stück im Kannebäcker-Land des Unterwesterwaldes verortet. Deren mit Gesang, Trommeln, Trillerpfeifen vorgetragener Protest gegen die Zerstörung ihrer Schule – wo im Geiste multikultureller Toleranz und der Liebe zu Mitmenschen wie Natur gelehrt und gelernt wird – weht von draußen in den Plenarsaal herein.

Da wirkt der klassische Konflikt zwischen den konkreten großen Sorgen der kleinen Menschen und dem vermeintlichen Großen und Ganzen der Politik. Da stehen Politik und Liebe, Staatsräson und Bürger, Landeshauptstadt und Dorf gegeneinander. Als die Kinder den Saal stürmen, übertrumpfen sich die Abgeordneten gegenseitig mit geheucheltem Verständnis – um alsbald zu ihrer musealen Geschäftigkeit zurückzukehren. Die rüstigen Rentner zetern derweil über angeblich von Lehrern und Eltern zum Zwecke der Zerstörung urdeutscher Werte missbrauchte Kinder. Schlussendlich wirft die blinde Zeitzeugin die ultimative Frage auf nach dem absehbaren Untergang dieser Demokratie oder etwa einem radikalen, von Humanität und Liebe durchdrungenen Neuanfang.

Warum sie dem Museumsparlament mit der Zündung eines Sprengstoffgürtels drohen muss, bleibt des Dramatikers Geheimnis. Dieser Schlusston ist so überflüssig wie einige Momente allzu naiver Gefühlsprovokation und allzu belehrenden Fingerzeigs. Ansonsten nämlich ist dieses ungewöhnliche Theaterprojekt als Warnung, Mahnung, Disputgegenstand und Denkanreger ein ziemlich starkes Stück.

Karten und Infos unter Telefon 06131/285 12 22 sowie unter www.staatstheater-mainz.com

Von unserem Autor Andreas Pecht