Ein Licht an diesem Theaterabend: Georg Marin spielt als Lear den Wahnsinn Shakespeares aus – sonst bleibt das Ensemble unscheinbar.
Wann immer in der Literatur oder unter passionierten Theaterfreunden die Rede auf dieses Stück kommt, stehen die Superlative Schlange. Zu Recht heißt es, „King Lear“ sei das düsterste, grausamste, kompromissloseste und erschütterndste Werk im Kosmos des William Shakespeare. Mehr noch: Neben Goethes „Faust“ handle es sich um die bedeutendste Tragödie des Welttheaters überhaupt. Daher ist es keine Kleinigkeit, wenn ein angesehener Schriftsteller und Dramatiker wie John von Düffel für die aktuelle Koblenzer Produktion in Anlehnung an den alten einen quasi neuen „Lear“ schreibt. Das Ergebnis hatte am Wochenende am Theater Koblenz Premiere, doch trotz kräftigen Beifalls scheiden sich daran die Geister.
Die Titelfigur dieses Klassikers ist seit jeher eine der begehrtesten Altersrollen. Ihre gewaltige Fallhöhe vom absoluten Herrscher zum wahnsinnigen kleinen Menschlein, dem die eigene Eitelkeit und die Machtgier zweier Töchter alles genommen haben, fordert jedem Schauspieler Großes ab: die Darstellung der fortschreitenden Zersetzung einer Psyche und schließlich deren völligen Umbau. Legendär ist die Verfilmung von 1948 mit Orson Wells. Legendär auch sind die Lear-Interpretationen von Bernhard Minetti 1985 oder Will Quadflieg 1992.
Unvergesslich ist uns Robert Wilsons Produktion mit der 80-jährigen Marianne Hoppe als Lear – jener kleinen, äußerlich fast unscheinbaren Greisin, deren Spiel gleichwohl die riesige Frankfurter Schauspielbühne noch im letzten Winkel vibrieren ließ. Unvergesslich ebenfalls und bis heute in der Theaterlandschaft nachwirkend: Dieter Dorns den Shakespeare-Text voll ausspielende Sechs-Stunden-Inszenierung mit Rolf Boysen als Lear an den Münchner Kammerspielen, von uns tief bewegt genossen bei einem Gastabend in Wiesbaden.
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Selbstredend verbietet sich der direkte Vergleich zwischen solchen Größen und den realistischeren Möglichkeiten am Koblenzer Theater. Dennoch bleibt beim Beurteilen einer jeden „Lear“-Bearbeitung der Umstand, dass sie Teil einer übergreifenden Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte ist. Also stellt sich zwingend die Frage: Wo sind dabei dieser Neutext und Markus Dietzes Koblenzer Inszenierung zu verorten? Zumal John von Düffel nicht nur tat, was oft getan wird: Shakespeares englische Vorlage neu zu übersetzen und gehörig auf eine heutzutage gemeinhin akzeptierte Länge zusammenzustreichen. Er ging noch einen Schritt weiter und veränderte nachhaltig Sprache, Struktur, teils den Inhalt des Werkes. Weshalb das Theater diesen „König Lear“ auch ausweist als „Schauspiel von John von Düffel nach William Shakespeare“.
Der nur rund zweieinhalbstündige Abend endet anders als das Original und beginnt mit einer Passage, die es bei Shakespeare gar nicht gibt: Lear hockt griesgrämig auf seinem Thron, lässt sich vom Narren (Raphaela Crossey) und Grafen Kent (David Prosenc) ein Stehgreif-Theater vorspielen. Thema: An der Herrschaft des alten Graf Gloucester sägt dessen auf die Nachfolge versessener Bastardsohn Edmund per bösartiger Intrige. Man erkennt in diesem bewusst dilettantisch aufgeführten Spiel-im-Spiel einerseits eine metaphorische Vorhersage auf das, was Lear nachher „real“ mit seinen älteren Töchtern Goneril (Lisa Heinrici) und Regan (Isabel Mascarenhas) widerfährt. Andererseits handelt es sich um Düffels Versuch, Shakespeares zweite Handlungsebene kurz anzutippen – um sie dann ganz aus dem Stück zu tilgen.
Was wohl als Bemühen um Klarheit und bessere Verständlichkeit des ziemlich komplexen Originals für heutiges Publikum gedacht war, stürzt aber nicht zuletzt den damit vertrauten Zuseher in arge Verwirrung. Der Tragödie fehlt plötzlich die zweite tragende Säule, von der nur eine knappe, obendrein unpassend komisch ausgeformte Brettlszene bleibt. Folge ist, dass in Koblenz Kent statt Gloucester geblendet wird, nicht Gloucesters Sohn Edgar in die Haut des irren Tom schlüpft, sondern Lears Jüngste, die gute Tochter Cordelia (Magdalena Pircher), und manche Sonderbarkeit mehr.
Ja, „King Lear“ ist in Düffels Variation bis in die Dialoge hinein kürzer, kompakter, vielleicht gefälliger. Allerdings hat der Stoff durch die Fixierung auf eine einzügige Haupthandlung sowie die rigide Verknappung der sprachlichen Ausführungen zugleich beträchtlich an Tiefe verloren. Mag sein, dies hat sich auf das extrem verkleinerte, hier nur noch achtköpfige Ensemble übertragen. Das bietet am Premierenabend keine Sternstunde der Schauspielkunst, sondern wirkt weithin steif, agiert lehrbuchmäßig sprachlich und gestisch an der Oberfläche – ausgenommen jene Viertelstunde, in der Georg Marin seinen Lear vollends dem Wahnsinn überantwortet und so die Shakespeare‘sche Humanität jenseits des Kampfes um Herrschaft entdecken lässt.