Auf welche Art prägt die Vergangenheit unser Wesen? Und inwiefern formt auch das (geografische) Umfeld, in dem wir aufwachsen, die Person, die wir heute sind? Auf diesen existenziellen Fragen gründet der neue Roman des Koblenzer Autors Frank Bresching, in dem zwei grundverschiedene Frauen zur Projektionsfläche werden für die Macht des Schicksals, dessen oft schmerzliche Brüche und daraus erwachsende Möglichkeiten, vor allem aber auch für die lebensbestimmende Bedeutung unserer Herkunft.
Ein komplexes Thema, das Bresching auf 300 Seiten klug aufschlüsselt, erzählerisch sehr feinsinnig vorantreibt. Und damit literarisch nahtlos anknüpft an seinen zuletzt erschienenen Roman „Briefe von Toni“ (2020). Doch während der Autor damals eine eindringliche Gesellschaftsstudie aus den Trümmern Berlins lieferte, die Schrecken des Krieges dokumentierte, sind es in „Das verlorene Band“ nun die geschickt verwobenen Biografien zweier Frauen. Hier die 20-jährige Mila, aufgewachsen in einer norddeutschen Akademikerfamilie, weit gereist und früh gebildet, dort Almut, die zurückgezogen in einem süddeutschen Bergdorf lebt, soziale Kontakte meidet, ihren Bauernhof seit Jahren in Eigenregie führt.
Inspiriert von Freiheit und Natur
Behütete Jugend versus trister Existenzkampf also, doch auch bei Mila erhält die scheinbar heile Welt bald tiefe Risse: Erst stirbt die Mutter, dann offenbart ihr der Vater im Streit eine erschütternde Wahrheit, die unweigerlich weitere Fragen aufwirft. Antworten? Hofft die junge Frau ausgerechnet bei Almut zu finden, auf jenem abgeschiedenen Hof inmitten der ihr fremden Bergwelt, auf dem sie sich einen wegweisenden Sommer lang einmietet.
Die Idee zur Geschichte kam dabei auch Bresching in den Bergen, nicht zufällig hat er sie als Kulisse gewählt. Im Alpenurlaub, erzählt er, sei er in einer Pension untergekommen und „unheimlich fasziniert“ gewesen von den Umständen, unter denen die Tochter der Besitzerin dort aufwächst. „Man darf das natürlich nicht zu sehr glorifizieren“, erklärt der Autor, „aber die besondere Verbindung zur Natur, mit der die Menschen in den Bergen groß werden, die daraus resultierende Freiheit, das Unbeschwerte unterscheiden sich schon deutlich vom Leben in der Stadt.“
Anderer Ort, andere Person?
Aus der Bewunderung indes entwickelte Bresching in der Folge erst die Fragestellung, wie sehr uns Orte und Umgebungen prägen, und konstruierte um diese herum schließlich seine Geschichte. „Die Suche nach den Gründen, warum wir geworden sind, wer wir sind“, sagt er, „und das Bewusstsein, dass wir uns an einem anderen Ort vermutlich auch zu einer anderen Persönlichkeit entwickelt hätten, sind zentrale Motive des Romans und beeinflussen auch die Beziehung zwischen Almut und Mila.“
Die nach der ersten Begegnung zunächst einmal ganz unverdächtig daherkommt: Mila lebt sich überraschend schnell ein in der neuen Welt, hilft kurz nach ihrer Ankunft bereits bei der täglichen Arbeit. Almut wiederum tauscht ihre anfängliche Skepsis ebenfalls bald gegen Vertrauen und Sympathie. Doch auch in den Bergen wird getratscht: Spätestens als Mila im Dorf erste Details und böse Gerüchte über das Leben ihrer Gastgeberin erfährt, besteht kein Zweifel mehr, dass die Geschichte nicht lang in der Idylle verharrt – und die beiden Frauen weitaus mehr verbindet, als sie bislang glaubten.

Die Vergangenheit der Protagonistinnen, gut portionierte Bruchstücke ihres Lebens verwebt Bresching schließlich gewohnt souverän in einzelne Erzählstränge, die sich nach und nach zum Gesamtbild einer schmerzlichen Wahrheit fügen. Die Ambivalenz der Berge – hier die majestätische Schönheit, dort das herausfordernd Schroffe – fungiert dabei als wiederkehrende Symbolik für die schicksalhafte Begegnung zweier Menschen, die sich hoch oben am Ende auch entscheiden müssen, welchen Teil ihrer (gemeinsamen) Geschichte sie loslassen wollen und welchen sie für immer behalten.
Seinen im Osburg Verlag erschienenen Roman stellt Bresching am Dienstag, 3. Juni, ab 19 Uhr auch bei einer Lesung in der Koblenzer Stadtbibliothek vor.