Aus Album wird Oper
Theater Bonn: Ein Björk-Musiktheater wie im Fiebertraum
Ausgangspunkt der Inszenierung "Vespertine" ist eine abgelegene Forschungsstation im ewigen Eis, hier mit Ava Gesell (links, Doppelgängerin) und Nicole Wacker als Wissenschaftlerin.
Matthias Jung

Das Theater Bonn inszeniert das Album „Vespertine“ von 2001 als eine sehr eigenwillige Art von Oper – Am Ende bleiben reihenweise Fragezeichen.

Dieser Abend endet mit einem Fragezeichen. Nein, eigentlich mit mehreren. Was passiert hier im Schauspiel Bad Godesberg? Was für Visionen und Fantasien sind der eisigen Schneelandschaft auf der Bühne entsprungen, in denen Zeit und Kausalität aufgehoben schien und jegliche Stringenz zerstückelt wurde? Will, kann und muss man das eigentlich wissen? Und was hat das alles eigentlich noch mit Björk zu tun?

Fragen über Fragen, die sich aus der Opern-Inszenierung des Pop-Albums „Vespertine“ ergeben, jenem introvertierten Meisterwerk der isländischen Avantgardesängerin, das das Kollektiv Himmelfahrt Scores schon 2018 für das Nationaltheater Mannheim arrangiert hat. Jetzt übernimmt das Kommando Himmelfahrt (bestehend aus dem Regisseur Thomas Fiedler, der Dramaturgin Julia Warnemünde und dem Komponisten Jan Dvořák) am Schauspiel Bonn auch die Regie und zeigt dabei das Potenzial von Kunst auf. Und die Grenzen der Oper.

Für die musikalische Umsetzung von "Vespertine" greift das Ensemble Musikfabrik unter der Leitung des Bonner Kapellmeisters Hermes Helfricht unter anderem Butterbrotpapier oder auf Walnüsse zurück.
Matthias Jung

Wer eine zumindest ansatzweise nachvollziehbare Handlung erwartet, dürfte ebenso enttäuscht werden wie Fans von Björk, die auf eine möglichst originalgetreue Reproduktion der Platte von 2001 hoffen. Die Noten stimmen – die Stimmung aber nicht. Was weniger an den Künstlerinnen und Künstlern auf der schlichten Bühne als vielmehr an dem Irrglauben liegt, den eigenwilligen, energiegeladenen und doch oft fragil erscheinenden Gesang Björks auch nur ansatzweise in die Welt der Oper übertragen zu können; dem stehen die Stimmtechniken und Stilistiken der klassischen Musik im Weg.

Das Resultat wirkt dadurch noch künstlicher als das Original, ironischerweise obwohl parallel zum geänderten Gesangsstil das Instrumentarium in eine rein akustische Form übersetzt wurde. Dafür greift unter der Leitung von Hermes Helfricht das Ensemble Musikfabrik ein führender Klangkörper der zeitgenössischen Musik, unter anderem auf Butterbrotpapier oder auf Walnüsse zurück. Björk könnte dieser innovative Ansatz sicherlich gefallen; dennoch ist die Transformation gewöhnungsbedürftig und liefert einen Sound, der längst nicht so direkt ist wie der des Albums. Dabei ist das Spiel des Ensembles an sich exquisit, was insbesondere in volltönenden Chorpassagen deutlich wird. In den leisen, ätherischen Momenten dominieren dagegen oft die trällernden Soprane. Hier wäre weniger mehr gewesen.

In der Einsamkeit der Polarnacht

Inhaltlich bleibt „Vespertine“ trotz der zusätzlichen Bildebene abstrakt, weithin sogar dadaistisch. Björks Verse waren schon immer enigmatisch, eher assoziativ als konkret und bar jeder eindeutigen Lesbarkeit. Ausgangspunkt der Inszenierung ist eine abgelegene Forschungsstation im ewigen Eis, in der eine Wissenschaftlerin (Nicole Wacker) und eine schattenhafte Doppelgängerin (Ava Gesell) zwei Krankheiten und ihre mögliche Übertragbarkeit auf den Menschen untersuchen.

Die Einsamkeit der Polarnacht erzeugt Fieberträume: Plötzlich taucht ein Kind auf (Karl Kristiansen), später dann ein Mensch-Hirsch-Hybrid (gesungen von Carm Rumstadt mit schönem Bariton), der möglicherweise der Vater sein könnte. Oder handelt es sich doch um eine unbefleckte Empfängnis? Der keltische Naturgott Cernunnos schwingt hier ebenso mit wie Marienverehrung, heidnische Poesie und befleckte Seelenechos.

Premierenpublikum feiert die Uneindeutigkeit

Konkret wird die Aufführung dabei nie, bleibt konsequent eine Phantasmagorie. Auf diesen großen Assoziationsraum muss man sich erst einmal einlassen. Andererseits ist es heutzutage eine Seltenheit, dass das Publikum nach 90 Minuten derart im luftleeren Raum gelassen wird und es sich selbst mit Interpretationen – oder einem freiwilligen Verzicht auf selbige – behelfen muss, was angesichts stehender Ovationen bei der Premiere offenbar vielen Besucherinnen und Besuchern des Schauspiels gelang. Auch so etwas kann, darf und soll Theater ermöglichen, und zumindest dieser Ansatz dürfte ganz im Sinne von Björk sein. Was „Vespertine“ sein will? Das muss jeder für sich selbst beantworten. Vielleicht einfach nur ein Rätsel. Oder ein Fragezeichen.

Infos, Termine und Vorverkauf online unter www.theater-bonn.de