Vor seiner Lesung in Koblenz spricht Takis Würger im RZ-Interview über seinen neuen Roman "Unschuld"
Takis Würger im Interview vor Lesung in Koblenz: „Ich war in Wohnwagensiedlungen und auf Partys mit Butlern“
Bekannt als vielfach ausgezeichneter „Spiegel“-Journalist und Autor: Takis Würger
Christophe Gateau/picture allian

Takis Würger berichtete bereits aus Afghanistan und der Ukraine – nun liegt mit „Unschuld“ sein neuer Roman vor. Das Buch über eine Frau, die versucht, die Unschuld ihres zum Tode verurteilten Vaters zu beweisen, stellt Würger am 17. November bei Reuffel in Koblenz und im Livestream vor. Im RZ-Interview spricht er vorab über intensive Recherchen in den USA und eine Fahrradtour durch das Hudson Valley.

Lesezeit 4 Minuten

Bekannt als vielfach ausgezeichneter „Spiegel“-Journalist und Autor: Takis Würger
Christophe Gateau/picture allian

Herr Würger, Ihr aktuelles Buch dreht sich um eine Kriminalgeschichte in den USA, liest sich aber phasenweise auch wie eine Gesellschaftsstudie: Es geht um soziale Ungerechtigkeit, die Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen. Sie selbst haben für Ihren Roman monatelang in den USA recherchiert. Was für ein Land haben Sie in dieser Zeit kennengelernt?

Ich habe dreimal das Glück gehabt, in den USA leben zu dürfen: als Austauschschüler, als Journalist in Texas und 2019 noch einmal auf Einladung einer Universität in New York – damals auch mehrere Monate im Hudson Valley. Die Vereinigten Staaten habe ich dabei immer als sehr widersprüchlich erlebt: einerseits groß und inspirierend, als ein Land, in dem wunderbare Romane und fantastische Musik entstehen, die mich geprägt haben, andererseits aber auch als eine Nation, in der es allein in diesem Jahr 250 Schießereien an Schulen gab, in der mehr Handfeuerwaffen in Umlauf sind, als dort Menschen leben. Diese Ambivalenz war für mich persönlich ein guter Ansatzpunkt für die Recherche an meinem Buch.

Die Idee zu „Unschuld“ ist also aus Ihrem jüngsten Aufenthalt heraus entstanden?

Die Idee entstand ganz konkret während einer Fahrradtour mit meinem Vater durch das Hudson Valley im Bundesstaat New York. Wir kamen damals durch ein Dorf namens Rosendale, das dann auch Schauplatz meines Romans wurde. Was mich dort hat aufhorchen lassen, war die Tatsache, dass vor 150 Jahren kein anderer Ort in den USA mehr Bordelle pro Einwohner hatte als dieser.

Wenn Sie das Dorf heute sehen, ist das unvorstellbar. Damals allerdings war Rosendale eine bedeutende Bergbaustadt, in der Zement gefördert wurde – unter anderem für Bauten wie das Capitol oder den Sockel der Freiheitsstatue. Ich fand es absolut faszinierend, dass von dieser Vergangenheit heute nichts mehr zeugt – und so begann über die Auseinandersetzung mit dem Ort schließlich die Arbeit an meinem aktuellen Roman.

Wenn man liest, dass in den USA allein zwischen 2015 und 2020 2070 Kinder mit einer Handfeuerwaffe Menschen verletzt haben, dass dabei 765 Menschen gestorben sind, dann denkt man über den Roman noch einmal anders nach.

Takis Würger

Wobei die eingangs erwähnten Erfahrungen aus Ihrer Zeit in den USA letztlich auch Eingang fanden in die Handlung.

Korrekt. Der Roman beschäftigt sich mit zwei Milieus in den Vereinigten Staaten: mit dem des Prekariats, das in Trailerparks, also in Wohnwagen, lebt, und mit dem der superreichen Ostküstenelite, wobei mir von Beginn an wichtig war, die Verwahrlosung in beiden Milieus offenzulegen. Um eben die möglichst authentisch wiederzugeben, habe ich schließlich monatelang in den USA recherchiert: Ich war in den Wohnwagensiedlungen, aber auch auf Partys von Menschen, in deren Häusern nach wie vor Butler rumlaufen, und ich habe mir die Villen der großen amerikanischen Familien angeschaut.

Takis Würger USA
Takis Würgers Romandebüt ist inzwischen auch auf Englisch erschienen („The Club”), nun hat er sich abermals mit den USA beschäftigt.
picture alliance/dpa | Barbara M

Was ich persönlich ganz spannend finde, ist das Nachwort, in dem Sie seitenweise Statistiken liefern, etwa zur Medikamentenabhängigkeit in den USA oder zum Waffenmissbrauch durch Kinder. Ist dieser Hang zur peniblen Recherche eine Art Berufskrankheit, die in Ihrer Tätigkeit als Journalist gründet?

Ich würde es nicht Krankheit nennen, sondern Glück. Aber ja, wenn ich etwas beschreibe, dann versuche ich, das möglichst genau zu tun. Das Nachwort gibt der Geschichte dabei schließlich noch mal eine weitere Facette: Wenn man liest, dass in den USA allein zwischen 2015 und 2020 2070 Kinder mit einer Handfeuerwaffe Menschen verletzt haben, dass dabei 765 Menschen gestorben sind, dann denkt man über den Roman noch einmal anders nach. Diese Zahlen zeigen, dass die Geschichte, obgleich sie natürlich fiktiv ist, durchaus in der Realität wurzelt – und die ist leider eine sehr traurige.

Mich interessieren vor allem Außenseiter, auch weil ich mich mit ihnen sehr gut identifizieren kann.

Schriftsteller und Reporter Takis Würger

Nun entspricht Molly, die Heldin Ihres Romans, so gar nicht dem Bild, das man von einer solchen im Kopf hat: Sie stottert, ist schüchtern, traut sich kaum unter Menschen. Warum haben Sie für Ihr Buch gerade diese perfekt imperfekte Hauptfigur geschaffen?

Das ist eine sehr interessante Beschreibung für Molly, ich glaube, die übernehme ich für meine künftigen Lesungen.

Sehr gerne.

Zu Ihrer Frage: Ich fand es einfach reizvoll, die Geschichte aus der Sicht einer jungen Frau zu erzählen, die selbst zu 100 Prozent davon überzeugt ist, dass sie nicht zur Heldin taugt. Sie weiß, dass sie versuchen muss, ihren Vater zu retten, glaubt jedoch, dass es vermutlich jeder andere besser könnte. Dass sich gerade diese junge Frau – als Hausmädchen verkleidet – einschleicht in jene Familie, in der der Mord, den ihr Vater gestanden hat, passierte, hat etwas Besonderes. Es ist spannend, sie in diesem Milieu zu erleben und zu schauen, ob und wie sie es schafft, ihren Vater zu retten. Das Buch ist für mich daher auch ein Entwicklungsroman, weil es zeigt, wie diese junge, auf ihre Art auch wahnsinnig komplizierte Frau mit der Aufgabe umgeht, der sie sich gegenübersieht.

Kann man also sagen, Sie fühlen sich von gebrochenen Menschen eher angezogen als von solchen, die Erfolgsgeschichten schreiben?

Ich würde es ein bisschen anders formulieren: Mich interessieren vor allem Außenseiter, auch weil ich mich mit ihnen sehr gut identifizieren kann. In meinem Leben gab es immer wieder Situationen, in denen ich mich als solcher wiedergefunden habe – viel undramatischer als Molly, aber ich weiß noch, wie es war, in den USA in die Highschool zu gehen, die so groß war wie das Dorf, aus dem ich kam. Wie es war, als deutscher Stipendiat in Cambridge zu studieren mit dem Gedanken: „Das merkt mir doch jeder gleich an.“ Ob ich mich im Literaturbetrieb wirklich zu Hause fühle, weiß ich im Übrigen auch noch nicht genau. Was alles in Ordnung ist, aber letztlich eben dazu führt, dass in meinen Romanen immer wieder Außenseiter eine besondere Rolle spielen.

Karten für die Lesung sowie den parallel dazu angebotenen Livestream gibt es hier.