Innenministerium führt ein Disziplinarverfahren gegen einen leitenden Mitarbeiter der Generaldirektion Kulturelles Erbe und will "wissenschaftlichen Schaden abwenden"
Schädel falsch datiert: Muss Landesgeschichte neu geschrieben werden?
Schädel und Knochenteile in den Räumen des Landesamtes für Denkmalpflege in Koblenz: Ihr Alter gibt dem Land neue Rätsel auf.
Thomas Frey/dpa. picture-alliance/ dpa

Mainz. Das Innenministerium führt ein Disziplinarverfahren gegen einen leitenden Mitarbeiter der Generaldirektion Kulturelles Erbe, der archäologische Funde manipuliert haben soll -  und will so „wissenschaftlichen Schaden abwenden“.

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Muss ein Teil der Geschichte des Landes neu geschrieben werden? Das Mainzer Innenministerium machte am Freitagmorgen einen außergewöhnlichen Vorgang öffentlich: „Es bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass geschichtsträchtige archäologische Funde durch einen leitenden Mitarbeitenden der GDKE bewusst manipuliert wurden“, teilt das Ministerium mit. Der Fall soll mithilfe von externer Unterstützung und Beratung aufgeklärt werden. Der Mitarbeiter, der lange Jahre am Standort Koblenz der Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) tätig war, stehe im „höchsten Verdacht, unwissenschaftlich gearbeitet und Funde manipuliert zu haben“.

Die Festung Ehrenbreitstein in Koblenz: Hier arbeitete der leitende Mitarbeiter der GDKE, der wichtige Knochenfunde falsch datiert haben soll. Foto: GDKE
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Um diesen Fall aufzuklären, hat das Land ein schon länger laufendes Disziplinarverfahren der GDKE gegen den Mitarbeiter, der schon längere Zeit zwar angestellt, aber nicht mehr aktiv tätig sei, ausgeweitet. Warum das bereits laufende Disziplinarverfahren eingeleitet worden war, könne mit Hinweis auf die Fürsorgepflicht des Landes als Arbeitgeber nicht veröffentlicht werden. Ebenso gelte für den Mitarbeiter weiterhin die Unschuldsvermutung. Sollten sich die Vorwürfe allerdings bewahrheiten, hätte der Mitarbeiter mit Maßnahmen bis zur Beendigung des Beamtenverhältnisses und dem Verlust von Pensionsansprüchen zu rechnen.

„Weiteren Schaden abwenden“

Bei einem anlässlich dieses Falls anberaumten Pressetermin in Mainz erklärte Staatssekretärin Simone Schneider (SPD), man wende sich in dieser Form an die Öffentlichkeit, „da wir aktuell davon ausgehen müssen, dass andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungsarbeiten auf diese öffentlichkeitswirksam vorgestellten und publizierten Funden aufbauen“. Deswegen sähe man sich verpflichtet, hierüber öffentlich zu berichten, „um weiteren wissenschaftlichen Schaden abzuwenden“.

Zweifel an der Arbeit des Mitarbeiters waren erst aufgekommen, als eine nicht näher genannte Universität, bei der dieser vor langen Jahren eine Dissertation abgelegt hatte, um Unterstützung bei einer Reihe von Fragen gebeten habe. Dabei ging es um die Altersbestimmung von mehr als 20 menschlichen Schädeln und Schädelfragmenten. Eine genaue Überprüfung ergab, dass mindestens 21 dieser Funde wesentlich jünger als in der Dissertation angegeben seien. Lediglich zwei Fragmente passten ins vorgebliche fünfte vorchristliche Jahrhundert, die restlichen stammten allesamt aus dem Mittelalter oder gar aus der Neuzeit.

Betroffene Funde klar eingrenzbar

Die Geschichte von Rheinland-Pfalz müsse dennoch nicht neu geschrieben werden, betonte Staatssekretärin Schneider: „Die Funde, um die es geht, lassen sich in räumlicher und zeitlicher Sicht klar eingrenzen.“ Für die weitere Aufklärung und zur Bestimmung des Ausmaßes betroffener Funde habe das Land externe Experten aus Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hinzugezogen.

Heike Otto, seit 2021 Generaldirektorin der GDKE, erläuterte beim Pressegespräch, welche Lehren man aus der aktuellen Situation gezogen habe: Schon seit 2013 habe man sich auf neue Leitlinien zum einheitlichen Umgang mit Funden verständigt, die nun noch einmal nachjustiert werden sollen.

Die Frage nach dem Grund

Dass es zu einem solchen Skandal kommen könnte, hatte Otto nach eigener Aussage in keinem Moment vorausgesehen – sowohl in Hinsicht auf den betroffenen Mitarbeiter als auch auf die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen, wissentlich falsch vorgenommenen Datierung. Die Frage nach einem potenziellen Grund für ein solches Verhalten konnten sowohl sie als auch die Staatssekretärin nur mit einem Schulterzucken beantworten.

Die in Rheinland-Pfalz gültige Praxis bei Ausgrabungen und deren Dokumentation sei keineswegs laxer oder weniger effektiv als anderswo, erläuterte Otto, gleichwohl werde man angesichts des Vorfalls zukünftig noch genauer hinsehen und an die Dokumentation noch höhere Anforderungen stellen.

Genauer unter die Lupe genommen werden nun auch Funde, die in vergangenen Jahren als herausragend und besonders wichtig präsentiert wurden – auch in der großen “vorZeiten"-Ausstellung zum 70-jährigen Bestehen des Landes. Und so muss möglicherweise an den einen oder anderen Fund, der sich bisher als besonders alt präsentieren durfte oder Grundlage für die Annahme bestimmter Riten und Gebräuche war, doch ein großes Fragezeichen gemacht werden.

Die Geschichte von Rheinland-Pfalz muss dennoch nicht neu geschrieben werden. Die Funde, um die es geht, lassen sich in räumlicher und zeitlicher Sicht klar eingrenzen.

Staatssekretärin Simone Schneider

Dass das Land sozusagen eine „Flucht nach vorn“ wählte und den betroffenen Mitarbeiter erst kurz vor der Veröffentlichung des erweiterten Disziplinarverfahrens informierte, könnte mit ähnlich gelagerten Vorkommnissen in der Vergangenheit zu tun haben: So war beispielsweise 2004 am Institut der Anthropologie und Humangenetik für Biologen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt eine Auseinandersetzung um das Schaffen von Reiner Protsch eskaliert. Der ehemalige Professor des Instituts hatte mit einer Reihe von besonders alten Schädelfunden für Aufsehen, aber auch für Misstrauen in der Fachwelt gesorgt.

Untersuchungen ergaben, dass einige der vermeintlichen Sensationsfunde aus der menschlichen Vorgeschichte um Zehntausende von Jahren vordatiert waren; ein weiteres in Zweifel gezogenes Fundstück war vor der Möglichkeit einer erneuten Altersbestimmung verschwunden.

Großer Wissenschaftsskandal

Der Aufruhr um Protsch sorgte nach einem Bericht im Magazin „Der Spiegel“ über dieses wissenschaftliche Fehlverhalten für einen der größten Wissenschaftsskandale in Deutschland, nach einer Suspendierung des Professors vom Dienst zu seiner Verurteilung zudem zu einer anderthalbjährigen Haftstrafe auf Bewährung – und in der Folge 2006 zur Schließung des Instituts der Anthropologie und Humangenetik für Biologen.