Einzigartige eiszeitliche Kunst aus einer Jagdstation in Neuwied-Gönnersdorf: In dieser Schiefergravur erkennen Archäologen hintereinander angeordnete Frauen, wahrscheinlich in einer Tanzszene, eine Frau im mittleren Bildteil trägt ein Gestell mit einem Kind darin auf dem Rücken.
Sie kommen aus der Mainzer Gegend, haben gerade die Moselmündung passiert. Jetzt macht sich in der 17-köpfigen Lebensgemeinschaft aus Männern, Frauen, Kindern ausgelassene Vorfreude breit. Ein paar Stunden Fußmarsch noch und sie werden den Lagerplatz am Osthang des Neuwieder Beckens erreichen. Dort können sie ihre in Felle und Häute gewickelten Utensilien ablegen und etwas ruhen – bevor es an die Materialsuche für den Bau einiger steilwandiger Rundhütten geht und die erste Jagdgruppe aus drei bis vier Mann auszieht, um Nahrung zu beschaffen. Mit Glück könnten die Jäger ein Pferd, ein Rentier oder eine Saiga-Antilope erlegen, hoffentlich aber wenigstens ein paar Gänse, Schwäne oder Schneehasen.
Sammeln, jagen, feiern: Die gemeinsame Jagdsaison
Und ebenfalls mit Glück treffen sie einige andere Menschen. Denn das ist das Schönste an der jährlichen gemeinsamen Jagdsaison beiderseits des in Hunderten Flüsschen, Bächen, Rinnsalen durch eine Geröllsenke mäandernden Rheins: mal andere Gesichter sehen als immer nur die der eigenen kleinen Sippschaft; einige Zeit mit anderen gemeinsam sammeln, jagen, feiern; interessante Kunde aus fernen Ecken der Welt hören; von neuen Erfindungen erfahren und Nützliches oder Nettes austauschen; eine Gefährtin oder einen Gefährten finden. In den Mußestunden an den Feuern im Hauptlager oder einem der kleinen Jagdlager in den Weiten der trocken-kalten mittelrheinischen Tundralandschaft wird man sich Geschichten erzählen. Und die Geschicktesten werden geduldig kunstvolle Bildnisse in Schieferplatten ritzen oder Figuren aus Horn und Mammutelfenbein schnitzen – von Frauen, Tieren in Bewegung oder von rätselhaften Fantasiewesen.
Wir schreiben das Jahr 13.500 vor unserer Zeit, und so oder ganz ähnlich dürfte es damals gewesen sein. Woher rührt das Wissen über die Treffpunkte von ein paar Dutzend Menschen bei Andernach und Neuwied-Gönnersdorf während der Spätphase der letzten Eiszeit? Über ihr handwerkliches und künstlerisches Geschick? Über ihre raffinierten Jagdwaffen und Feinwerkzeuge aus Knochen und Stein? Über ihre mit zwei Feuer-/Kochstellen und Schieferfußboden ausgestatteten, hübsch rot getünchten Hütten?
Zehntausende archäologische Funde liefern Antworten
Es rührt von Zehntausenden archäologischen Funden im und ums Neuwieder Becken. Dort hatten die Artefakte unter den meterdicken Bimsschichten vom letzten Ausbruch des Laacher-See-Vulkans anno 10996 vor Christus die Jahrtausende überdauert. Der industrielle Bimsabbau seit dem späten 19. Jahrhundert brachte die Hinterlassenschaften unserer frühen Vorfahren an die Oberfläche. Der Landstrich wurde deshalb zu einem Eldorado der Steinzeitarchäologie. Anfang der 1970er tauchte in der Fachliteratur der Begriff „Frauenfiguren vom Typ Gönnersdorf“ auf. Er wurde zum international gebräuchlichen Terminus für aus Elfenbein, Knochen, Horn geschnitzte oder in Schieferplatten geritzte Frauendarstellungen eines ganz bestimmten Stils: Der weibliche Körper wird überwiegend im Profil ohne Kopf und Füße gezeigt; aus dem langen und oft stabförmigen Korpus ragt ein überproportional mächtiges Gesäß in Halbrund- respektive Dreiecksform heraus; die Brüste sind oft nur angedeutet. In ihrer Schematisierung und formalen Reduktion wirken die steinzeitlichen Ritzzeichnungen, mehr noch die nur wenige Zentimeter großen Statuetten wie stilisierte Symbole des Weiblichen – und erinnern fast an moderne Kunst.
Daneben ist das räumliche und zeitliche Auftauchen der Figuren vom Typ Gönnersdorf von besonderem Interesse. Die europäische Archäologie förderte gleichartige Frauendarstellungen an Fundplätzen von Südfrankreich und Britannien über das Rheinland und Ostdeutschland bis in die Ukraine zutage. Alle sind fast zeitgleich entstanden, lassen sich einer jungsteinzeitlichen Spätepoche mit dem schönen Namen Magdalénien zuordnen. Ihr hohes Niveau der Abstraktion unterscheidet diese Frauenfiguren grundlegend von demonstrativ wohlgenährten, naturalistischen Fruchtbarkeitsfiguren der vorigen 10 000 Jahre.
Das Neuwieder Becken als Knotenpunkt der steinzeitlichen Begegnung
War das Ausdruck eines Kulturumbruchs, eines neuen Frauenideals oder nur eine Mode, was sich da mit der Gönnersdorf-Ästhetik im Magdalénien-Europa Bahn brach? Welche Funktion hatten die Statuetten und Ritzbilder? Und warum sind keine Männer dargestellt? Neben vielen Fragen gibt es auch zwei Erkenntnisse. Erstens: Die späteiszeitlichen Jäger und Sammler standen über gewaltige Entfernungen hinweg in kulturellem Austausch miteinander. Dies ist umso bemerkenswerter, als die winzige menschliche Population jener Zeit sich in den Weiten Europas fast verlor. Wissenschaftler beziffern die damalige Bevölkerung im heutigen Deutschland-Gebiet mit nur rund 4000 Köpfen. Zweitens: Abstraktionsgrad und ästhetisches Niveau der Frauendarstellungen belegen die bereits eindeutig künstlerische Auseinandersetzung jener Menschen mit ihrer Lebenswelt.
So darf das Neuwieder Becken als ein Knotenpunkt steinzeitlicher Begegnung und Kommunikation gelten, der mehr als 15 000 Jahre vor unserer Zeit über die Wanderungen der Menschen vernetzt war mit halb Europa.
Von Andreas Pecht