Zum 40. Festivalgeburtstag
Rock am Ring: Noch nie perfekt und doch unverzichtbar
Ein Anblick, der seit der Festivalpremiere 1985 untrennbar verbunden ist mit Rock am Ring und sich natürlich auch in diesem Jahr wiederholte: glückselige Menschen, hier beim Auftritt von Kontra K.
Kevin Rühle. Kevin Ruehle

Den 40. Geburtstag galt es in diesem Jahr bei Rock am Ring zu feiern. Zeit für einen Blick auf die jüngste Ausgabe und weiter zurück in die Vergangenheit – inklusive Erklärungsversuch, warum ein Festival nicht perfekt sein muss, um gelungen zu sein.

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Rock am Ring ist 40 Jahre alt. Zu diesem runden Geburtstag zunächst einmal herzlichen Glückwunsch. Weil es eine stolze Zahl ist – und im schnelllebigen Musikgeschäft weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, einerseits. Auf der anderen Seite aber auch, weil sich bei der Premiere 1985 vermutlich niemand, inklusive Festivalvater Marek Lieberberg selbst, hätte träumen lassen, dass es diesen 40. Geburtstag im damals noch fernen Jahr 2025 einmal zu feiern gäbe.

Rock am Ring, das war ursprünglich ein Experiment ohne Zukunft: geplant als zweitägiges Einmalereignis über Pfingsten, von den Massen dann allerdings entgegen der kühnsten Erwartungen gleich überrannt und von Lieberberg noch vor Abschluss der Erstauflage um ein weiteres Jahr verlängert. Eine Entscheidung, die der Konzertveranstalter seinerzeit wohl auch beschwingt durch die allumgreifende Euphorie verkündete – und damit unwissentlich den Grundstein legte für eine von zahllosen Legenden und Geschichten umrankte Erfolgsstory.

Campinos Gipsfuß und eine kultig-finstere Manson-Show

Was ist nicht alles passiert in 40 Jahren Rock am Ring? Unkonventionell, ja, fast schon anarchisch fing es an mit Festivalgängern, die bierselig auf Decken vor der – zunächst noch einzigen – Bühne lagen, mit Joe Cocker, der sich bei solchen Bildern an seinen viel zitierten Auftritt in Woodstock erinnert fühlte, oder Bono, der bei der Festivalpremiere als damals noch recht unbekannter Frontmann von U2 auf das Dach der Besuchertribüne kletterte.

Unvergessliche Auftritte wie diesen gab es in der Folge schließlich noch viele: 1999 zum Beispiel ließen Metallica das Publikum bei ihrem ersten Rock-am-Ring-Gastspiel in extatischer Manier ausrasten, Marilyn Mansons skurril finstere Hardrockshow von 2003 zählt heute ebenfalls zu den besonders hervorzuhebenden Kultmomenten, und auch Campino – mühte sich 2008 mit Gipsbein aufs Dach der Center Stage – und David Bowie – brachte 1987 als bislang einziger Künstler gleich seine eigene Bühne mit – sind inzwischen längst fester Bestandteil im kollektiven Festivalgedächtnis.

Das zweite Jahr des Rock-am-Ring-Gastspiels in Mendig wurde 2016 von einem schweren Unwetter überschattet. 70 Menschen zogen sich damals bei Blitzeinschlägen teils schwere Verletzungen zu. Das Festivalgelände stand anschließend unter Wasser.
Thomas Frey. picture alliance/dpa

Wobei nicht immer alles glanzvoll war am Ring, die bewegte Geschichte durchaus auch ihre dunkleren Kapitel schrieb: 1988/1989 etwa wurde das so vielversprechend angelaufene Festival nach einbrechenden Zuschauerzahlen für zwei Jahre auf Eis gelegt, 1997 versank es nach den – selbst für Nürburgring-Verhältnisse – ungewöhnlich starken Regenfällen im Schlamm; es folgten Streit mit den Rennstreckenbetreibern und vorübergehender Umzug nach Mendig, 70 teils schwer Verletzte nach heftigen Unwettern 2016, eine Terrorwarnung samt Festivalabbruch bei der Rückkehr an den Gründungsort 2017 und zuletzt natürlich der doppelte Corona-Stillstand in den Jahren 2020/2021.

Dass Rock am Ring schließlich all diese Rückschläge überlebte, das Festival aus den Zäsuren stets gestärkt hervorging, spricht zweifellos für dessen Qualität – und bildet neben dem nun vollendeten 40. Lebensjahr einen weiteren Anlass zum Feiern. Die Veranstalter von Lieberberg-Nachfolger Dreamhaus haben hierfür in den vergangenen drei Tagen einen gebührenden Rahmen bereitet, 90.000 Besucher sind ihrer Einladung gefolgt zu einer Party, die im Großen und Ganzen all das hatte, was es braucht, um in der Rückschau als gelungen betrachtet zu werden.

Eröffneten am Freitag als eine von drei Überraschungsbands die Jubiläumsausgabe: Electric Callboy um Frontmann Nico Sallach.
Kevin Rühle. Kevin Ruehle

Da wären zuvorderst natürlich die Überraschungen, die auf keiner guten Feier fehlen sollten. Am Freitag gab es derer gleich drei, die die Jubiläumsausgabe auf der Utopia Stage mit einer ungewöhnlichen Genremischung in Gang brachten: Electric Callboy, Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys sowie Knocked Loose zelebrierten in dieser Reihenfolge zweimal Metalcore und dazwischen Italoschlager. Keine 24 Stunden später staunten die Ringrocker dann auf Zeltplatz B5 nicht schlecht, als dort plötzlich Feine Sahne Fischfilet – tags zuvor noch ganz offiziell auf der Mandora Stage – für einen spontanen Gig vorbeischauten, der zwei Zuhörer offenbar derart elektrisierte, dass sie sich auf der improvisierten Bühne gleich das Jawort gaben.

Und am Abend schließlich bestätigte sich unweit der Mandora Stage auch noch, was ein Schriftzug samt Countdown am Kran hier bereits seit Freitagnacht angedeutet hatte: Die Chemnitzer Rap-Rock-Kombo Kraftklub gab ein lediglich vier Songs umfassendes Minikonzert, das jedoch umso größer zu begeistern wusste: Für viele Ringrocker war es dem Stimmungsbarometer zufolge eines der Festivalhighlights schlechthin.

Für viele eines der absoluten Highlights in diesem Jahr: das Minikonzert der Chemnitzer Rap-Rock-Kombo Kraftklub am Samstag
Kevin Rühle. Kevin Ruehle

Dabei wussten im Verlauf der auf vier Bühnen und 100 Acts erweiterten Jubiläumsshow auch viele weitere Bands zu überzeugen: die Headliner Bring Me the Horizon, Korn und Silpknot ganz ohne Zweifel, daneben auch K.I.Z., die Beatsteaks oder Weezer, die auf der Utopia Stage am Freitagnachmittag eine angenehm-nostalgische Portion 90er-Jahre-Flair versprühten. Dass aus den brandneuen LED-Türmen auf dem Infield in der ersten Festivalnacht zudem noch eine kurze, aber spektakuläre Pyroshow gezündet wurde: ein weiterer Beleg für eine stilsicher geplante Geburtstagssause.

Wenngleich auch diese Festivalauflage nicht ausnahmslos positiv daherkam: Wie im wirklichen Leben amüsierten sich auf der Party nicht alle Gäste gleichermaßen. Die einen zürnten ob der Überraschungsbands am Freitag, verließen bei Roy Bianco und seinen Abbrunzati Boys gar scharenweise das Infield und hätten sich statt des süddeutschen Schlagersextetts oder Knocked Loose vielleicht eher Kaliber wie Linkin Park gewünscht – die inzwischen immerhin als erster Headliner für das kommende Jahr angekündigt wurden. Andere reisten gar vorzeitig ab, nachdem Sturm und Regen ihrer Campingausrüstung in der Nacht zum Sonntag den Todesstoß versetzt hatten. Und wieder andere äußerten sich generell enttäuscht vom Line-up, das zum runden Geburtstag in der Tat etwas exklusiver hätte ausfallen können.

Als letzter Headliner brachten Korn die Bühne am späten Sonntag noch einmal zum Beben.
Kevin Rühle. Kevin Ruehle

Dabei gehört zur Wahrheit allerdings gleichermaßen dazu, dass Kritik dieser Art so alt ist wie das Festival selbst, während sich dessen Geschichte als solche ein Stück weit auch zu spiegeln scheint in dieser 40. Ausgabe. Als eine Art Analogie, die da lautet: Ja, Rock am Ring ist nicht perfekt – und war es noch nie –, sein Werdegang verlief nicht immer positiv geradlinig, auch wenn dort früher mehr XXL-Künstler waren. Vielleicht kommen sie ja eines Tages wieder, wer weiß, vielleicht ist das Festival aber auch einfach gut so, wie es (geworden) ist. Wofür neben vier Jahrzehnten auf dem Markt auch das Prädikat ausverkauft bei der jüngsten Ausgabe steht.

Jene 90.000 Menschen also, die oft schon unzählige Male am Ring waren und den Mythos in dieser Zeit stärker geprägt haben als irgendeine Band. Menschen, die sich zu abgedrehten Technobeats im Takt die Zähne putzen, die ihren Endorphinen im Moshpit freien Lauf lassen, sich gegenseitig helfen, gemeinsam der Welt entfliehen, die verspeiste Gürkchen zählen, sich von Rollstühlen nicht einschränken lassen oder ihre Plüschbären auf dem Zeltplatz mit Essen aus dem 3-D-Drucker verwöhnen.

Elektrisiert und bestens gelaunt zeigte sich das Publikum vor der Utopia Stage auch beim Auftritt der Beatsteaks am Sonntagabend
Kevin Rühle. Kevin Ruehle

Als Ort, an dem man „Gemeinschaft erfährt, wunderschöne Momente teilt und den Eindruck gewinnt, es sei alles in Ordnung“, hatte der Musikwissenschaftler Markus Henrik Rock am Ring vor Kurzem im Gespräch mit unserer Zeitung definiert. Und geschlussfolgert: „Dadurch können uns Festivals auch ein Stück weit das Vertrauen in die Menschheit zurückgeben – und allein das ist doch schon etwas unheimlich Schönes.“ In diesem Sinne: auf 40 weitere unperfekt perfekte Jahre!