Man könnte fast meinen, das neue Team hätte Angst vor dieser größten Schauspielbühne Deutschlands. Schon die Saisoneröffnung mit Shakespeares „Richard III.“ spielte nicht im gewaltigen Frankfurter Guckkasten, sondern in der Hallenmitte. Für „Das siebte Kreuz“ hat Raimund Bauer eine völlig leere kleine Plattform vor den geschlossenen eisernen Vorhang gebaut. Darauf behandelt nun in extrem reduzierter Inszenierung ein siebenköpfiges Ensemble das Kernstück des Romans: die Flucht von sieben Männern anno 1937 aus dem fiktiven KZ Westhofen bei Worms. Die Flüchtlinge schlagen sich durchs Rhein-Main-Gebiet. Sechs werden gefasst oder getötet; einer, Georg Heisler, entkommt ins Exil.
Im Theaterfoyer empfängt den Besucher in Leuchtschrift ein Ausspruch Richard von Weizsäckers: „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Im Programmheft ist eine Rede der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin abgedruckt, gehalten 2013 in der Gedenkstätte KZ Osthofen. Darin heißt es: „Anna Seghers hat diesem Lager in ihrem Roman ein literarisches Denkmal von Weltgeltung gesetzt. Ihre Beschreibung des Apparats von Unterdrückung und Tyrannei ist beklemmend und sinnbildlich zugleich, Aufklärung und Gedenken sind ein gesellschaftlicher und politischer Auftrag.“
Der Roman spielt vor Beginn der industriellen Massenvernichtung durch die Nazis, das Gros der KZ-Insassen besteht noch aus politischen Gefangenen. Webers Inszenierung konzentriert sich ganz auf Heislers siebentägige Flucht und einige von deren wichtigsten Stationen in Mainz und Frankfurt. Gegliedert wird der Abend durch sieben Lieder aus Schuberts „Winterreise“. Der gefühlvolle Gesang von Bassbariton Thesele Kemane verdichtet die Atmosphäre des ruhelosen, getriebenen und zugleich in bangem Warten verharrenden, stets durch hoffnungslose Vergeblichkeit bedrohten Weges von Heisler.
Max Simonischek gibt die Ambivalenz dieser Figur in einem fabelhaft ausbalancierten Kontrastspiel zwischen Leidendem und Kämpfer, zwischen Entschlossenheit und Verzweiflung, zwischen Ausgestoßensein aus der Gesellschaft und Vertrauen auf die Solidarität anständiger Mitmenschen. Das Theater kann nicht jenes große Typenpanaroma nachbilden, mit dem Seghers im Buch die moralische, politische, persönliche Zerrissenheit des deutschen Volkes zeichnet. Christoph Pütthoff, Wolfgang Vogler, Michael Schütz, Paula Hans und Olivia Grigolli schlüpfen vielmehr per fliegendem Wechsel in knappe, aber meist ungemein dichte Skizzen ausgewählter Charaktere: mutige, selbstlose, verängstigte, opportunistische, verräterische, verbrecherische.
Fließend auch sind die Übergänge von der Personendarstellung zur inneren respektive erzählenden Stimme, hier vielfach in Form sprechchorischer Textwiedergabe. Die Fülle der Wechsel verunsichert bisweilen. Und die schier existenzialistische Reduziertheit der Szenerie auf gutes Sprechtheater mit sparsamster, doch intensiver Darstellungsweise dürfte heutzutage nicht jedem zusagen. In summa bleiben jedoch zwei pausenlose, sehr dichte Stunden, in denen das Theater auf seine Weise den Seghers-Roman trefflich anpackt – und wesentliche Teile von dessen Substanz dem Zuseher zum ernsten Bedenken mitgibt.
Tickets und Termine unter www.schauspielfrankfurt.de