Nach nur wenigen Takten von Franz Schuberts „unvollendeter” h-Moll-Sinfonie zu Beginn ist klar: Da haben sich zwei gefunden. Das Koblenzer Orchester und die Dirigentin aus Estland sind ein Herz und eine Seele bei diesem populären frühromantischen Werk. Ebenso klar ist: Die schlanke Frau mit blondem Pferdeschwanz, aber im schwarzen Frackanzug hat hier das Sagen.
Ihr Schlag ist ein Musterbeispiel zwingender Präzision und Eindeutigkeit. Zugleich jedoch entfaltet Anu Tali mittels vielgestaltigen Ausdrucksvariationen der linken Hand, des Körpergestus, der Kopfhaltungen eine ungeheuer gefühlvolle Diktion. Selbst die Augenbrauen dirigieren mit. So intensiv das alles ist, entsteht dennoch zu keinem Moment der Eindruck von Effekthascherei. Wir erleben ein ehrliches und hochkarätiges Dirigat, eine selbstbewusste Dirigentin in der Rolle als erste Dienerin der Musik.
Gleich taucht unvermeidbar die Frage auf: Geht so „weibliches Dirigat”? Sie wird indes erst zu beantworten sein, wenn man mal fünf, acht oder mehr Damen von ähnlichem Rang am Leitungspult live gesehen hat. In diesem Fall ist das Ergebnis hinreißend: „Die Unvollendete” herrlich sauber, dicht, vielfarbig, klug und tiefenemotional dynamisiert; die Rheinische in ihren Teilen wie in der Gesamtheit bestens eingestellt und den kleinsten Fingerzeig der Dirigentin aufnehmend.
Das braucht es auch für das, was folgt. Denn das Konzert wird zur musikalischen Zeitreise von Schuberts Sinfonik des frühen 19. Jahrhunderts zum mittleren 20. der Sinfonik Benjamin Brittens. Unterwegs wird Station gemacht bei „Kol Nidrei” von Max Bruch aus dem Jahr 1880 sowie bei Ernest Blochs „Schelomo” von 1917. Beide Werke speisen sich aus dem geistlichen Leben des jüdischen Kulturkreises, sind für Orchester und Solo-Cello gesetzt. Beidesmal übernimmt der israelische Cellist Zvi Plesser quasi die Funktion des Vorsängers.
Für das Bruch-Stück legt Frau Tali den Taktstock weg. Wie bei einem Chordirigat leitet sie das Orchester mit bloßen Händen durch seine hier vor allem choralartig den Solisten umspielende Funktion. Unverkennbar: Plesser hebt nicht auf Virtuosenglanz ab, obwohl das Bloch-Stück manche Gelegenheit böte. Mit klarer Intonation und Linienführung strebt er nach Beseeltheit, ja Inbrunst – um den deutschen Zuhörern (wieder) nahezubringen, was vor den Unzeiten auch einmal verbreiteter Teil ihrer Landeskultur war.
Der Schritt von Bruch zu Bloch ist auch ein Schritt heraus aus den klassisch-romantischen Harmonie- und Rhythmustraditionen. Die Dirigentin greift wieder zum Taktstock, ihre Bewegungen werden größer, ihre Impulse energischer, ihr Taktschlag stramm. Bloch spurt den Weg, mit Brittens „Sinfonia da Requiem” haben wir dann nicht nur vom jüdischen zum christlichen Erbe gewechselt, sondern sind musikalisch vollends bei den für Akteure wie Publikum beträchtlichen Herausforderungen der Moderne gelandet.
Die Umsetzung ist stimmig, furios, schweißtreibend – weshalb die sympathische Nordländerin am Dirigentenpult den langen Schlussbeifall schmunzelnd beendet mit einer kleinen Geste, die sagen will: Lasst uns endlich einen trinken gehen.
Nächstes Anrechtskonzert am 28. April: Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, Infos unter www.musik-institut-koblenz.de