Das Gepäck im Kofferraum des silbernen K 70 war schwer an diesem Morgen – wenngleich nur auf das Nötigste beschränkt: Kein Zelt fand dort Platz, weder Schlafsäcke noch Kleidungsstücke, stattdessen Biervorräte für mehrere Tage, stattliche Benzinkanister voll mit Wodka und Orangengensaft. „Früher“, sagt Helmut Müller, „war das noch ein bisschen anders, da wurde nicht viel überlegt, man ist einfach losgefahren – und der Rest hat sich dann von selbst ergeben.“ Wer braucht schon Planung, wer Annehmlichkeiten, wenn am Ziel der Reise nicht weniger wartet als ein gutes Stück deutsche Musikgeschichte? Müller jedenfalls nicht. Sein Kumpel Klaus Benner ebenso wenig, und so machten sich die beiden Westerwälder am 25. Mai 1985 recht unbefangen auf in Richtung Eifel, wo an jenem frühsommerlichen Pfingstwochenende das inzwischen legendäre Megafestival Rock am Ring seine Premiere feierte.
Was in der Nacht von Samstag auf Sonntag passierte – das schon mal vorweg –, lässt sich für Müller heute nur noch bruchstückhaft rekonstruieren. „Ich weiß nicht mehr genau, ob wir im Auto geschlafen oder durchgemacht haben“, erzählt der 64-Jährige, wobei die Gedächtnislücke wohl eher auf die zweite Option schließen lässt. Sehr präzise dagegen sind die Erinnerungen des Enspelers an den Trubel auf den Zeltplätzen, die sich seinerzeit noch zaunlos über die Felder entlang des Rennparcours erstreckten. „Man kam an diesem Wochenende nicht wirklich zur Ruhe, weil das Gelände rund um die Uhr beschallt wurde“, sagt er. „Überall war Musik zu hören, in fast jedem Kofferraum standen Boxen oder Radios.“

Die Stimmung unter den Festivalbesuchern war demnach losgelöst. Die von Sehnsucht getränkte Luft voll süßer Erinnerungen an die wilden 60er, die auch vor der damals größten Bühne Europas nicht halt machten: Er habe immer wieder an Woodstock denken müssen, gab etwa Joe Cocker nach seinem Auftritt zu Protokoll. Und der britische Soulrocker sollte es wissen, schließlich prägte er die Legende 1969 maßgeblich mit, zuckte und zappelte sich bei der Mutter aller Festivals zum weltberühmten Star. Und fühlte sich 16 Jahre später offenbar auch in der Eifel pudelwohl, wo Rock am Ring nun so etwas wie die Wiedergeburt der mehrtägigen Open-Air-Konzerte in Deutschland markierte.
Einen neuerlichen Anlauf nach vielen festivallosen Jahren; der bislang letzte Versuch, ein wiederkehrendes Format zu etablieren, war 1972 mit dem „2. British Rock Meeting“ auf der Halbinsel Grün bei Germersheim gescheitert. Und auch am Ring hatte Konzertveranstalter Marek Lieberberg sein Festival vor diesem Hintergrund zunächst als Einwegereignis geplant: 17 Einzelkünstler und Bands – darunter neben Joe Cocker auch Chris de Burgh, Foreigner, Huey Lewis oder Saga – sollten ein Wochenende lang an der frisch modernisierten Rennstrecke auftreten. Die einzige Bühne stand damals schon an jener Stelle im Schatten der Boxengasse, an der heute noch die Utopia Stage thront, unmittelbar davor drängten sich die Ur-Ringrocker zu Tausenden, weiter hinten lagen sie etwas komfortabler auf mitgebrachten Decken. Manch einen hatte das Zusammenspiel aus Sonne und Alkohol bereits am Samstagnachmittag in tiefen Schlaf versetzt.

Wobei die schiere Masse an Menschen „für uns schon überraschend war – und für die Veranstalter vermutlich ebenfalls“, sagt Helmut Müller, der als eifriger Konzertgänger durchaus Großformatiges gewohnt war. Mit 75.000 Besuchern meldete Rock am Ring gleich bei seiner ersten Auflage den Ausverkauf; im Rundfunk wurde nur wenige Stunden nach dem Start am Samstagmorgen dazu aufgerufen, die Ausflugspläne gen Eifel zu canceln. Veranstalter Lieberberg verkündete, beschwingt durch diesen Achtungserfolg, noch am Premierenwochenende die Festivalfortsetzung für Juni 1986.
Und traf damit eine richtungsweisende Entscheidung, die – neben den nackten Zahlen – sicher auch vom besonderen Geist der Erstausgabe getragen wurde, von der elektrisierenden Stimmung, die heute noch in den mehrstündigen Konzertmitschnitten des ZDF auf Youtube spürbar wird. Der TV-Sender war seinerzeit Medienpartner am Ring und bescherte beiläufig auch Müller ein Erlebnis der besonderen Art: „Das ZDF“, erinnert sich der 64-Jährige, „hatte eine seiner Kameras mitten in der Menge auf einem Lkw mit hohem Ausleger aufgebaut. Dort sind wir vorbeigeschoben worden, als uns von oben ein Techniker zugerufen hat, die Kabel seien durch die Schwenks verheddert. Also haben wir sie wieder gerichtet und durften diese Aufgabe dann auch für den Rest des Tages übernehmen.“

Gemeinsam mit seinem Kumpel Klaus Benner saß der Westerwälder somit fortan auf der Ladefläche des Lkw, war – nach der eigenen humorigen Lesart – folglich „nicht nur zum Spaß bei Rock am Ring, sondern musste dort auch was arbeiten“. Wenngleich er für seinen Einsatz am Ende durchaus auskömmlich entlohnt wurde, „da wir von dort oben freien Blick hatten auf die Bühne und nur den Arm heben mussten, wenn wir ein neues Bier wollten“.
Es sind kuriose Szenen, die heute ebenso unvorstellbar scheinen wie der Kombiticketpreis von 49 Mark – für drei Tage liegt dieser aktuell bei knapp 330 Euro – oder die Handvoll Toilettenhäuschen auf dem Gelände, die samt Insassen immer wieder umgestoßen worden seien, wie Müller erzählt. Wobei ikonische Bilder an diesem Wochenende auch auf der Bühne entstanden, von U2-Frontman Bono etwa, der – damals noch mit Vokuhila und lediglich im Vorprogramm von Chris de Burgh – mit einem Scheinwerfer in der Hand aufs Bühnendach kletterte, von dort aus weiter auf das nebengelegene Fahrerlager, um auf diesem schließlich seinen Song „Give Peace a Chance“ zu performen.

Die italienische Rockröhre Gianna Nannini indes wollte Bono das Feld in Sachen Aufsehen offenbar nicht kampflos überlassen und lüftete bei ihrem Song „America“ kurzerhand das weitgeschnittene Trägertop, Westernhagen wiederum lockerte bei den Besuchern mit Nummern à la „Keine Zeit“ oder „Geiler is’ schon“ das Tanzbein. Und lieferte damit weitere von zahllosen Momenten, die Premierenbesuchern wie Müller bis heute in guter Erinnerung geblieben sind. Die zugleich auch den Grundstein legten für jenen mythengleichen Ruf, den sich das Festival in den Folgejahren allerdings erst noch mit reichlich Resilienz erarbeiten musste.
In seinen Anfängen nämlich ging es für Rock am Ring mehr bergab denn nach oben. 1986 etwa fanden unter dem Eindruck einer erhöhten Terrorgefahr und der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl nur noch 40.000 Besucher den Weg vor die Bühne, 1988 sank diese Zahl sogar noch weiter auf den bis heute gültigen Tiefstwert von 30.000, woraufhin Lieberberg dem Festival zunächst eine dreijährige Auszeit samt Feintuning verordnete – und sein Herzensprojekt in der Folge tatsächlich wieder zurück in die Erfolgsspur führte.

Mit einer stärkeren Fokussierung auf Newcomer, vor allem auch ausgedehnt auf drei Tage, entwickelte sich Rock am Ring nach der Renaissance 1991 zur festen internationalen Größe und lockte über die Jahre so ziemlich jeden Star in die Eifel, den die Branche zwischen Metal, Pop und Rock aufzubieten wusste. Die Backstreet Boys traten dort ebenso auf wie Robbie Williams, Bob Dylan oder Santana. Der Rest ist (Musik-)Geschichte, deren Ursprünge Helmut Müller 1985 hautnah miterleben durfte.
Und auch, wenn damals noch niemand ahnen konnte, dass der „Rolling Stone“ die Festivalpremiere Jahre später sogar unter die besten 60 Konzerte aller Zeiten wählen würde: Ein gefragter Gesprächspartner war der Westerwälder dennoch, als er das Pfingstwochenende nach der Rückkehr vom Ring stilecht auf der Kirmes in Enspels Nachbarort Rotenhain ausklingen ließ. „Klaus und ich hatten zwar keinen Cent mehr in der Tasche, aber dafür wollten viele von uns wissen, wie das Festival war, wie die Bands gespielt haben“, berichtet Müller.
Und vielleicht fand sich unter den Antworten ja damals schon jene Kurzfassung, die er auch 40 Jahre später liefert auf die Frage „Wie war das eigentlich 1985 bei der ersten Ausgabe von Rock am Ring?“: „Bei diesem Festival“, sagt er, „ist ein Haufen verrückter Leute zusammengekommen, die ausgelassen waren, lustig und friedvoll. Tausende Menschen, die einfach nur gemeinsam Spaß haben wollten.“
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