Der zu Recht bejubelte Spitzenakteur des Abends ist ein Nichttänzer: der junge Tenor Simon Bode. Schlank, warm, unverkrampft, klar die Stimmgebung, berührt sein fein ziselierter Gesang tief. Wer Zenders Musikbearbeitung noch nicht kennt, lauscht aufmerksam und angetan darauf, was das Wiesbadener Staatstorchester unter Benjamin Schneider Spannendes aus dem Graben schickt: ein weithin Schubert-getreues Orchesterarrangement, stimmig ergänzt, erweitert, gefärbt durch spätromantische bis moderne Harmoniebrechungen sowie die textlichen Erzählelemente klanglich illustrierende Geräuschkollagen.
Am Tanzereignis auf der Bühne scheiden sich aber die Geister: hier lautstarke Begeisterung, da verhaltener Freundlichkeitsapplaus, dort vereinzelt sogar schweigsamer Missmut. Plegge hat die Wanderung eines von Liebeskummer gequälten Melancholikers in die Vorhalle eines Hotels verlegt (Bühne: Sebastian Hannak). Was in den originalen Liedtexten Wilhelm Müllers von 1832, die Schubert vertonte, einsame Wegstrecken und Stationen gramerfüllten, grüblerischen Innehaltens in winterlicher Natur sind, wird hier zu getanzten Traumbildern – zu Begegnungen des verzweifelten Mannes mit Körper gewordenen Erinnerungen, Empfindungen, diversen Aspekten seiner selbst.
Doch die Hotelmetapher schafft dem altbekannten Geschehen keinen tragfähigen neuen Rahmen. Statt Konzentration auf das Innere des einen Mannes greift jene Art vielfältiger und momenthafter Zufälligkeitsbegegnungen um sich, wie sie dem Hotelgetriebe eben eigen sind. Verschiedene Typen, Männer wie Frauen, kommen, haben kurz mit- oder nebeneinander zu tun und gehen wieder. Dass die Choreografie damit personifizierte Aspekte des Weiblichen – wie Irrlicht, Rebellion, Unschuld – meint, kann man im Programm lesen, aber nicht sehen. Ähnlich bei des Mannes Charakterzügen wie Ratlosigkeit, Wahnsinn, Zögerlichkeit.
Es ist nicht so, dass in den Hauptrollen schlecht getanzt würde. Im Gegenteil: Ramon John liefert als Wanderer eine fabelhafte Leistung ab, die ein präzises neoklassisches Bewegungsrepertoir mit dessen sinnfällig freier Überschreitung verbindet. So auch Clementine Herveaux‘ burschikos zupackende „Rebellion“ oder die flatternd mädchenhafte „Unschuld“ von Elisabeth Gareis. Umwerfende Beweglichkeit, Gewitztheit, auch Hintergründigkeit legt Masayoshi Katori in der Rolle des lenkenden, beobachtenden und kommentierenden Übergeistes von Hotelportier an den Tag. Doch es will aus manch schönen, dichten Einzelszenen kein dramaturgisches Ganzes werden.
Das verstärkt umgekehrt den etwas ermüdenden Eindruck, dass Plegge bei dieser Choreografie allzu sehr auf häufige Wiederholung seines tänzerischen Kernvokabulars baut. Damit bleibt „Eine Winterreise“ choreografisch hinter dem Niveau des Hessischen Staatsballetts zurück – und die Compagnie gerade bei den größeren Formationen unter ihren Möglichkeiten.
Infos unter www.hessisches-staatsballett.de