Auf eine rostig-stählerne Wand sprüht der Jude Nathan den Satz: „im Anfang WAR das WORT“. Dazu flutet aus Lautsprechern eine Kakofonie medialen Plapperns, Schwätzens, Werbens, Aufgeregtseins in vielen Sprachen. Das Portal hebt sich, gibt den Blick frei auf eine Trümmerlandschaft – in der nun 15 Minuten lang das Donnern von Kampfjets, die Detonationen von Bomben und Granaten, herabstürzende Trümmer und aufwirbelnde Staubwolken das Reden der Menschen miteinander unmöglich machen. Ein starkes Sinnbild auf die Gegenwart.
Doch noch leben die vom Bombardement alle gleichermaßen malträtierten Juden, Christen, Muslime dieses Ortes; sei es Jerusalem, Bagdad oder Ghuta, sei es Homs, Afrin oder das World Trade Center von New York 2001. Und während sie Deckung suchend durch das im Namen ihres je eigenen Gottes entfesselte Kriegsgetümmel hetzen, spielen sie in kurzen, wilden Pantomimen und mit Taubstummengesten eine Geschichte. Es ist der wortlose Schnelldurchlauf von „Nathan der Weise“, den sie sich inmitten des tödlichen Lebens erzählen – als ließe sich darin ein letzter Funken verzweifelter Hoffnung finden.
Als nach langer Viertelstunde der Krieg Verschnaufpause macht, beginnt zwischen Trümmern und Bretterverschlägen (Bühne: Hans Dieter Schaal) das eigentliche Stück – in einer von der Kulisse bis zu den Kostümen und Gesichtern völlig staubgrauen Kriegswelt. Im Unterschied zu seiner verstorbenen Alters- und Zunftgenossin Irmgard Lange 2005 in Mainz, zu Tilman Gersch 2007 in Wiesbaden, dann K. D. Schmidt wieder in Mainz oder erst recht Volker Lösch 2016 in Bonn, lässt Brieger den „Nathan“ von da an drei Stunden fast konventionell durchspielen. Das ist auf allen neun Positionen handwerklich so ordentlich gemacht, dass die altbekannte Kraft von Lessings Stück als Plädoyer für das absolute Primat von Vernunft und Humanität sich angemessen entfalten kann. Das funktioniert und macht den Abend per se bedeutsam als Standpunkt zu aktuellen Gesellschaftsentwicklungen – auch wenn die Figureninterpretationen hier eher unambitioniert ausfallen.
Tom Gerbers Nathan ist eben ein kluger Mann; der Saladin von Hanno Friedrich eben ein verständiger Sultan; Daja, die Christin in Nathans Haushalt, ist bei Maria Hartmann eben eine gleichermaßen nervige wie liebevolle wie religiös verbohrte Mamsell.
Mira Benser und Maximilian Pulst zelebrieren die beiden Liebenden – Nathans Ziehtocher Recha und den sie aus dem Feuer rettenden Kreuzritter – mit angemessener Jugendlichkeit. Die fällt reizend aus, wo Liebesdrang und Schüchternheit sich vermischen. Die wird im aufschäumenden Furor von Erschrecken, Verzweiflung, Zorn zu recht altbackenem Spielmanierismus. Überhaupt hat die Figurenführung der Wiesbadener Inszenierung einen gewissen Hang zu künstlicher, plakativer Exaltiertheit.
Spannend ist wieder der Schluss, jenes Lessing'sche Happy End, bei dem alle sich in den Armen liegen, da sie nun von ihrer Verwandtschaft miteinander wissen und über jede Religionsgrenze hinweg als Menschen gemeinsam in Frieden leben können. Damit haben Theatermacher seit dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkrieges mitsamt nachfolgenden Konflikten ihre Probleme. Wie schon bei Claus Peymann 1981 oder George Tabori 1991 bleibt auch jetzt in Wiesbaden Nathan von der Schlussumarmung ausgeschlossen. Er schleicht sich davon, um auf der am Ende wieder geschlossenen Stahlwand vom Eingangsspruch nur noch das Wort „WAR“ zu belassen. Das will traurig resümieren: Im Anfang war das Wort – daraus haben wir bis heute allseits Unverstand, Unmenschlichkeit, Feindschaft, Krieg gemacht.
Tickets und Termine unter Tel. 0611/132 325 sowie unter www.staatstheater-wiesbaden.de