Mit dem Ziel Komponistenkarriere ging Klaus von Wrochem in den 1960er-Jahren in die Staaten, zog nach seiner Rückkehr 1970 jedoch, beeinflusst durch die Hippiebewegung, in eine Kommune – und wurde Straßenmusiker. Heute gilt der 85-Jährige, besser bekannt als Klaus der Geiger, mit seinen wilden Improvisationsmixturen längst als Ikone der freien Kulturszene, engagiert sich in dieser Funktion seit Langem auch politisch und spielt Mitte Juli auf dem Weltmusikfestival Horizonte in Koblenz. Zeit für einen (Rück-)Blick auf eine ungewöhnliche Karriere.
Herr von Wrochem, Sie sind, auch wenn man es Ihnen kaum anmerkt, inzwischen 85 Jahre alt, künstlerisch allerdings unvermindert umtriebig. Man könnte fast meinen, die Musik hält Sie jung.
Das ist auch so, wobei man als Freiberufler natürlich auf eine gute Auslastung angewiesen ist, und dann kommt es eben schon mal vor, dass man viel unterwegs ist und drei, vier Konzerte am Stück spielt, nur einen Tag Pause hat und direkt wieder los muss. Das ändert aber nichts daran, dass die Musik mich nach wie vor fasziniert und mir unheimlich viel gibt.
Nun haben Sie zu Beginn Ihrer Karriere zunächst bei Max Rostal in Köln Violine studiert, später dann in Buffalo und San Diego auch noch Komposition. Eine Karriere als Klaus der Komponist kam für Sie dennoch nie infrage?
Doch, eigentlich wollte ich gern in den USA bleiben und dort Professor werden, hatte auch schon meine Doktorarbeit geschrieben und war Mitglied im San Diego Symphony Orchestra. Doch die Situation in den Staaten war damals mitten im Vietnamkrieg nicht wirklich einfach. Ich musste raus aus dem Orchester, weil ich keiner Gewerkschaft angehörte, mein Stipendium lief aus, und das Geld reichte nicht mehr für uns und unsere drei Kinder. Also sind wir zurück nach Deutschland, wo ich dann eben Straßenmusiker wurde. Und ich glaube, die waren in den USA ganz froh, dass sie mich als damals schon sehr politisch engagierten Menschen los waren.
Bereuen Sie denn, dass Sie kein Komponist geworden sind?
Nein, ich finde mein Leben so, wie es ist, gelungen – und auch schlüssig.
„Ich kann es ein Stück weit schon verstehen, dass die Leute wütend sind, aber nicht, dass sie als Reaktion darauf die AfD oder Trump wählen.“
Klaus der Geiger
Politisch geprägt war und ist bei Ihnen jedoch nicht nur das Private, sondern auch Ihre Musik – sowohl die Stücke selbst als auch der Kontext Ihrer Auftritte, beispielsweise bei linken Demos. Wäre Musik als reines Unterhaltungselement für Sie also überhaupt vorstellbar?
Nein. Und das war auch der Grund, warum ich meinen Doktor in Komposition in Deutschland nicht mehr nachgeholt habe: Etablierte Musik hat mich irgendwann einfach nicht mehr gereizt, mir fehlte der Zugang dazu. Obwohl es gute Stücke natürlich in allen Genres gibt, egal ob Rockmusik, Klassik oder Rap. Ich höre zum Beispiel unheimlich gern Schubert, auch Bach und Mozart, bei deren Musik ich oft weinen könnte. Lieder wie „Imagine“ von John Lennon berühren mich ebenfalls auf eine sehr emotionale Weise, haben also eine tiefe seelische Wirkung, die selten ist und unheimlich wertvoll. Aber meine eigene Musik muss einfach politisch sein, sie braucht das Wort. Und ich versuche, beides zu kombinieren, indem ich die Kraft der Musik nutze, um darin mit der Sprache meine Botschaft auszudrücken.
Welche Rolle hat bei dieser Politisierung schließlich auch Ihr Aufenthalt in den USA gespielt?
Eine entscheidende, weil ich dort nicht nur mit der Rockmusik, dem Groove in Berührung gekommen bin, sondern auch mit der Hippiebewegung. An der Uni habe ich damals zudem viel mit jungen Studenten zusammengearbeitet, die fast ausnahmslos eingezogen wurden für den Vietnamkrieg, auf den sie allesamt keine Lust hatten. Auch diese Erfahrung hat mich im Hinblick auf mein Engagement für den Frieden sicher geprägt.
Wie bewertet jemand wie Sie denn dann die aktuelle politische Weltlage, in der autoritäre Tendenzen vielerorts auf dem Vormarsch sind? Überspitzt könnte man ja sagen: Alles, für das Sie sich seit Jahrzehnten einsetzen – Umweltschutz, Völkerverständigung, Antirassismus –, scheint gerade in weite Ferne zu rücken oder wird durch Kräfte wie Trump sogar systematisch demontiert.
Das macht mich, wenn ich ehrlich bin, fertig. Manchmal frage ich mich auch, wofür ich überhaupt noch auftrete, und würde am liebsten alles hinschmeißen, aber dann denke ich mir: Ich habe in meinem Leben vieles richtig gemacht, bin erfolgreich mit meiner Musik und habe im Grunde gar kein Recht, so negativ zu denken. Wissen Sie: Ich war in den USA in einer akademischen Blase unterwegs, habe aber auch andere Milieus kennengelernt, Menschen, die nicht viel Geld haben und in den USA wirklich hart um ihr soziales Überleben kämpfen müssen. Auch in der DDR sind die Bürger verarscht worden – und unser heutiges kapitalistisches System ist nicht weniger menschenverachtend als das frühere kommunistische. Daher kann ich es ein Stück weit schon verstehen, dass die Leute wütend sind, aber nicht, dass sie als Reaktion darauf die AfD oder Trump wählen.

Wobei die Situation ja noch ein Stück weit bedrückender erscheint vor dem Hintergrund, dass eine wirkliche Diskursbereitschaft in der Gesellschaft zunehmend seltener erkennbar ist.
Ich weiß gar nicht, ob das wirklich so extrem ist. Natürlich hat sich die Debatte zuletzt verschärft, es gibt viel Hass, und wo Hass ist, verschwindet die Bereitschaft zur Diskussion. Aber ich bin Optimist und glaube trotz alledem weiter daran, dass sich die aktuelle Situation auch wieder ändern lässt. Ich jedenfalls arbeite daran, viele andere tun es auch – und genau das macht mir Mut.
Dann lassen Sie uns doch zum Abschluss noch mal auf Ihre Musik zu sprechen kommen: Diese ungewöhnliche Mischung aus Jazz, Rock, Folk und Klassik – ist das ein Stück weit auch Ausdruck Ihrer eigenen Unangepasstheit?
So würde ich es nicht beschreiben. Ich liebe einfach das Experimentelle und komponiere auch immer noch gern. Für das Lied „Mozartkugel“ etwa habe ich sieben verschiedene Melodien von Mozart genommen und diese mit Jazz und Groove zusammengemischt. Auch Paganini verwende ich oft für solche Stücke. Dabei ist es grundsätzlich so, dass mein Gitarrist Marius Peters und ich die Klassik meist als Basis verwenden und darauf dann unter Verwendung der anderen genannten Stile improvisieren. Mit dem Orchester des Kunstsalons Köln arbeite ich als Dirigent übrigens ganz ähnlich: Wir fangen mit dem Chaos an, jeder spielt seine eigene Interpretation, und nach einer Zeit erkennen die Ensemblemitglieder plötzlich den Sinn in diesem vermeintlichen Durcheinander, stellen den Kontakt zueinander her, und es entsteht eine besondere musikalische Situation.
Das Chaos ist bei mir also die Grundlage für alles, es ist das Fundament, auf dem etwas sehr Wertvolles entstehen kann, wenn man zum Beispiel die unterschiedlichen Stile entsprechend zusammenfügt. Manchmal fangen Marius und ich auch ganz unspektakulär an mit Jazz oder Swing, lassen dann nach und nach Harmonie und Groove fallen, spielen laut durcheinander in einer unfassbaren Kakofonie, und die Leute drehen durch, weil das einfach etwas komplett Ungewohntes ist.
Über Ihr Geigenspiel sollen Sie zudem mal gesagt haben, es sei „ziemlich brutal“: Wie meinen Sie das?
Das hängt mit meiner inzwischen fast 50-jährigen Praxis als Straßenmusiker zusammen. Wenn man das macht, muss man sehr laut spielen, sonst kann man direkt wieder nach Hause gehen. Gleichzeitig habe ich auf diese Weise aber eben auch unzählige Geigen verschlissen – obwohl ich früher sogar extra einen Rundbogen benutzt habe, damit ich nicht ständig mit dem Holz auf das Geigengehäuse schlage. Mittlerweile bin ich zwar wieder zum normalen Bogen zurückgekehrt, aber die Art des recht rabiaten Spiels habe ich mir beibehalten, das ist mein Stil – und beschert meiner Geige ein nicht ganz einfaches Dasein.
Ein Wochenende Weltmusik: Das Horizonte-Programm in der Übersicht
Freitag, 18. Juli, ab 18.15 Uhr:
- Ahmed Eid & Ilyv (DE/PSE)
- Dennis Kessler Trio (DE)
- Dub Spencer & Trance Hill (CH)
- Eusebia (MDG)
- Mother’s Cake (CH)
- Sarab (FR)
Samstag, 19. Juli, ab 12 Uhr:
- Alicia Edelweiss (AT)
- Daniel Bongart & Band (DE)
- Elliot Duo (DE)
- Kabinett (DE)
- Minyo Crusaders (JPN)
- Menino (DE)
- Nação Zumbi (BRA)
- Ogenj (HR)
- Rivers (DE)
- Roxanne de Bastion & Band (GB)
- Six Nation (DE/JAM)
- Teddy & The Slags (DE)
- Ão (BE)
Sonntag, 20. Juli, ab 12 Uhr:
- The Ukulele Orchestra of Great Britain (GB)
- Dievagari (DE)
- Dennis Kessler Trio (DE)
- Elliot Duo (DE)
- Klaus der Geiger (DE)
- Rumpelstilzchen (DE)
- The Trouble Notes (DE)
- Krissy Matthews & Band (GB)
Neben dem musikalischen Programm wird es auf dem Festival auch einen Hippie- und Streetfoodmarkt geben, am Samstagabend ist zudem eine Salsaparty geplant, am Sonntag dann ein großes „Rumpelstilzchen Open Air“, bei dem verschiedene DJs elektronische Weltmusik auflegen. sts
Weitere Infos und Karten unter www.cafehahn.de