Nur zwei Autostunden von New York den Hudson River flussaufwärts liegt die pittoreske Provinzstadt Annandale-on-Hudson, Sitz einer der wichtigsten Universitäten der Freien Künste der USA, die auch ein bedeutendes Klassikfestival veranstaltet. Zentral für den hervorragenden Ruf des Bard College ist der Dirigent und Musikwissenschaftler Leon Botstein verantwortlich, Chef des American Symphony Orchestra und Ehrendirigent des Jerusalem Symphony Orchestra, der seit 1975 der Universität als Präsident vorsteht. Vor zehn Jahren hat er dort das TON (The Orchestra Now) gegründet – und er steht gerade kurz vom Abflug zum ersten Auslandskonzert des Orchesters am Dienstag, 6. Mai, in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle beim Internationalen Musik Festival Koblenz (Imuko). Auf dem Programm stehen das „Ave Maria“, op. 61 und das „Adagio nach keltischen Motiven“, op. 56, von Max Bruch sowie die Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, op. 97 („Rheinische Sinfonie“) von Robert Schumann und Felix Mendelssohns 5. Sinfonie d-Moll, op. 107 („Reformation-Sinfonie“). Wir sprachen mit Botstein über das Konzert, das zum Gedenken des Weltkriegsendes vor 80 Jahren stattfindet, die Versessenheit der Musikszene auf vermeintliche Meisterwerke und die kulturpolitische Situation in den USA.
Sehr geehrter Herr Botstein, Sie haben das TON vor zehn Jahren als Ausbildungsorchester für junge Musikerinnen und Musiker an der Schwelle zur Profikarriere gegründet. Haben sich Ihre Pläne erfüllt?
Ich habe TON gegründet, um talentierten jungen Orchestermusikern die Möglichkeit zu geben, sich für ihre professionelle musikalische Karriere weiterzubilden. TONs Mission ist es, regelmäßige Konzerte im Fisher Center for Performing Arts, in Carnegie Hall, bei Jazz at Lincoln Center und im Metropolitan Museum of Art zu veranstalten. Darüber hinaus besteht die Mission von TON darin, das Standardrepertoire um vernachlässigte Meisterwerke der Musikgeschichte – also Werke, die nicht länger im aktiven Repertoire sind – zu erweitern. Das TON-Repertoire konzentriert sich auf Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, ein weiterer Schwerpunkt liegt auf zeitgenössischer Musik. Ergänzend muss für den Abschluss des dreijährigen Masterstudiums jeder Student ein Kammermusik-Konzertprogramm zusammenstellen und aufführen. Hinzu kommt ein interdisziplinäres Seminar, das Musik mit Geschichte, Politik, Literatur, Philosophie und Kunst verknüpft und den Studenten ein humanistisches Verständnis der Musikkunst gibt. TON hat auch eine Reihe von Aufnahmen von Werken aus dem unterrepräsentierten Repertoire der Musikgeschichte eingespielt. TON-Musiker haben hervorragende Karrieren gemacht. Ich bin stolz auf alles, was TON in den letzten zehn Jahren geschaffen hat.

TON unternimmt in seinem Jubiläumsjahr 2025 seine erste Auslandreise – wie sind Sie auf Deutschland als Ziel gekommen, was bedeutet das für Sie?
Unsere erste Auslandstour kam durch eine Einladung der Stadt Nürnberg zustande. Diese Einladung hat große persönliche Bedeutung für mich: ein Konzert zum Gedenken des Sieges der Alliierten in 1945. Ich bin ein jüdischer Einwanderer, der nach dem Krieg staatenlos mit seiner Familie in den Vereinigten Staaten ankam.
Nach welchen Gesichtspunkten haben sie die Werke in ihrem Koblenzer Konzertprogramm ausgesucht, von denen einige während der Nazi-Zeit in Deutschland unerwünscht waren?
Das Konzert in Nürnberg ist ein Mendelssohn-Programm. Mit diesen Werken feiern wir das Ende der nationalsozialistischen Kunstzensur und der Rassenideologie und die Wiederaufnahme von Mendelssohns Werken im deutschen Konzertleben. Auf dem Programm für Koblenz steht auch Schumanns letzte Sinfonie. Die Nazis haben Schumann als einen weitaus originelleren und würdigeren Komponisten bevorzugt. Mit Werken von Schumann und Mendelssohn auf einem Programm können wir zeigen, dass dieses Argument falsch ist und auf einem rassistischen Vorurteil beruht, der von den Schriften Richard Wagners beeinflusst ist.
Orchester und Opernhäuser haben es verabsäumt, spannende Konzertprogramme aus den enormen Schätzen des musikhistorischen Museums zu entwickeln.
Der Dirigent und Musikwissenschaftler Leon Botstein erforscht seit Jahrzehnten die reichen Schätze der Musikgeschichte, aus denen er für seine Konzertprogramme schöpft.
Sowohl die Werke von Max Bruch als auch die von Felix Mendelssohn konnten sich nach dem Krieg wieder durchsetzen. Sie setzen sich seit Jahren sehr stark für vergessene und verbotene Kompositionen und ihre Schöpfer ein – woher nehmen Sie die Motivation?
Mein Eintreten für vergessene und verbotene Musik kommt aus einer tiefen Abscheu von Zensur aller Art und der Art und Weise, wie Musikgeschichte geschrieben wurde und wird. Dazu kommt meine Unzufriedenheit mit der Tendenz in unserem Konzertleben, sich auf wenige sogenannte Meisterwerke zu konzentrieren, die dann immer wieder aufgeführt werden. Orchester und Opernhäuser haben es verabsäumt, spannende Konzertprogramme aus den enormen Schätzen des musikhistorischen Museums zu entwickeln. Einer der Gründe für das abnehmende Interesse an klassischer Musik ist meiner Meinung nach gerade diese Vernachlässigung der Vielfalt von Musik. Ich habe mein Leben lang diese Schätze der Musikgeschichte erforscht. Diese nicht aufzuführen, ist eine nicht zu rechtfertigende Auslöschung der Erinnerung, eine Auslöschung der Geschichte, eine Verzerrung unserer kulturellen Vergangenheit.
Wie haben Sie die Verantwortung von Kulturinstitutionen im Umgang mit Erinnerung und Geschichtsaufarbeitung erlebt – sowohl in den USA als auch in Deutschland?
Kulturinstitutionen in den USA und in Deutschland haben ein eher oberflächliches Geschichtsgedächtnis. In den USA waren in Sachen Musik die Opfer ungerechter Behandlung vor allem Komponisten aus den Minderheiten und Komponistinnen generell. In Deutschland waren es die Juden, vor allem Komponisten, die entweder in den 30er- und 40er-Jahren starben oder ins Exil gezwungen wurden. Hier sind unter den Opfern auch Komponisten, die sich während des Dritten Reichs aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben, etwa Karl Amadeus Hartmann und Walter Braunfels. Kompensation wird daher weniger mit speziellen Feiern erzielt, sondern durch die Wiederaufnahme ihrer Werke in das Konzertrepertoire.
Die Maßnahmen der Trump-Regierung gegen die Wissenschaft, Bildung und die Hochschulen verstoßen meiner Meinung nach gegen die amerikanische Verfassung und die Bill of Rights und die Prinzipien, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert sind.
Leon Botstein, Präsident des Bard-College, gegen den Versuch der gegenwärtigen Trump-Regierung, „die Vereinigten Staaten in die Autokratie und Isolation zu führen“.
Gerade in der jüngsten Zeit erreichen uns auch aus den USA Nachrichten, in denen es scheint, als sollte die Geschichte in manchen Kapiteln umgeschrieben werden. Wie erleben Sie diese Diskussionen, die auch die Hochschullandschaft durcheinanderbringen?
Mit meinen Kollegen an amerikanischen Universitäten und in Kunstorganisationen kämpfe ich gegen die Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien, gegen den Versuch, die amerikanische Geschichte umzuschreiben, gegen den Versuch, die Vereinigten Staaten in die Autokratie und Isolation zu führen. Die Trump-Regierung rechtfertigt ihre Angriffe auf amerikanische Universitäten mit dem Argument, dass es ein Kampf gegen Antisemitismus sei. Das ist nicht wahr. Antisemitismus hat es in den Vereinigten Staaten schon immer gegeben; er ist nicht aus dem Verhalten an den Universitäten entstanden. Was die Trump-Regierung tut, offenbart ein weitaus gefährlicheres Muster antisemitischen Denkens und Stereotypisierens. Als Historiker bin ich mir dessen bewusst. Diese Vermischung von Antisemitismus und Kritik an Israel ist mir bekannt. Ich war Musikdirektor des Jerusalem Symphony Orchestra, bin heute sein Gastdirigent. Ich bin Zionist und zugleich auch ein scharfer Kritiker der israelischen Regierung. Ich glaube an Israel als eine pluralistische Demokratie und an die Möglichkeit einer friedlichen, gerechten Lösung für eine israelische und palästinensische Gemeinschaft. Die Maßnahmen der Trump-Regierung gegen die Wissenschaft, Bildung und die Hochschulen verstoßen meiner Meinung nach gegen die amerikanische Verfassung und die Bill of Rights und die Prinzipien, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert sind. Diese Regierung wurde jedoch von meinen Mitbürgern gewählt. Es ist unsere Verantwortung, ihrer Politik mit legalen Mitteln und demokratischen Verfahren entgegenzutreten. Wir müssen uns gegen ihre Politik stellen und Immigration unterstützen, was ein bedeutender Aspekt unserer Geschichte und unserer Zukunft ist, und wir müssen unsere europäischen Allianzen und die Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine unterstützen.
Am Jahrestag des Kriegsendes musizieren Sie mit Ihrem Orchester in Nürnberg auf Einladung des dortigen Sinfonieorchesters – wie hat sich der Auftritt zwei Tage zuvor in Koblenz ergeben?
Wir freuen uns sehr darauf, in Koblenz aufzutreten und sind für diese Einladung, die sich aus der Nürnberger Einladung ergab, sehr dankbar. Das Konzert in Koblenz ist eine wunderbare und unerwartete Gelegenheit für uns. Musik ist wichtig – und als öffentliche Kunst erinnert Musik uns an alles, was uns verbindet, und nicht an das, was uns trennt. Musizieren ist eine Verkörperung des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
Leon Botstein diskutiert am Montag, 5. Mai, um 18 Uhr im Historischen Rathaussaal Koblenz mit dem Cellisten Benedict Kloeckner, der ehemaligen Hochschulpräsidentin Ingeborg Henzler und Markus Graf, dem Vorsitzenden von Pop RLP, über die Rolle der Kultur bei der Verhinderung von Nationalismus. Die Moderation übernimmt der Koblenzer Kulturdezernent Ingo Schneider. Der Eintritt ist frei. Tickets für das Konzert am Dienstag, 6. Mai, um 19.30 Uhr gibt es unter Tel. 02628/1486 und 0179/4404746, bei Ticket Regional sowie an der Abendkasse in der Rhein-Mosel-Halle.