Beide aber wollten sie dem nicht nachgehen, beäugten sich bloß von ferne und erkannten sich doch im anderen. Seit dem ersten Treffen ist viel geschehen, doch öffentlich traten sie nicht gemeinsam in Erscheinung. Dies ändert sich jetzt mit einem Buch, das sie gerade gemeinsam veröffentlicht haben: „Das Leben wortwörtlich“ heißt es, „ein Gespräch“ verspricht der Untertitel, wenngleich es in erster Linie ein 330-seitiges Interview ist, das Augstein mit seinem Vater führt. Walsers Fragen sind rar, Augsteins Antworten meist wortkarg.
Faule Ausreden
Den Sohn interessiert vor allem die Kindheit und Jugend seines Vaters. In Wasserburg am Bodensee erlebt Walser die Zeit des Nationalsozialismus, seine Mutter trat bereits 1932 in die NSDAP ein. Walser sagt: „Meine Mutter war keine Nationalsozialistin.“ Augstein hakt nach und erhält eine abgeschmackte Erklärung: Die Mutter hatte eine Gastwirtschaft, ohne Parteimitgliedschaft hätte der finanzielle Schaden groß sein können. Walser stilisiert seine Mutter zur typischen Deutschen, die durch den Versailler Vertrag eben in die unglückliche Lage gebracht wurde, Parteimitglied zu werden.
Augstein geht da nicht mit, doch Walser bleibt bei seiner Haltung: „Wenn ich den Eintritt dieser katholischen Frau in die Partei verständlich mache, dann mache ich verständlich, warum Deutschland in die Partei eingetreten ist. Davon kannst du mich nicht abbringen.“ Nach der Walser’schen Logik hat es im „Dritten Reich“ kaum einen Nazi gegeben – dieser faule Entschuldigungsdiskurs ist es bis heute, der Walser viel Ärger eingebracht hat. Walser bleibt uneinsichtig, und wo der für seine Schärfe gefürchtete Journalist Augstein nachfragen würde, bleibt der Sohn brav und lässt seinen Vater lieber noch mal das zum Besten geben, was Walser-Leser aus dem autobiografischen Kindheitsroman „Ein springender Brunnen“ und aus diversen Interviews schon kennen.
Immer wieder kommt er auf die ökonomische Situation seiner Mutter zu sprechen, die zwar als Ausrede für den politischen Fehltritt nicht greift, aber Walsers Verhältnis zum Geld offenbart: „Geld ist das Gegenteil von Angst. Das Wichtigste ist Unabhängigkeit. Und wahre Unabhängigkeit gibt es nur durch Geld.“ Walsers Romanfiguren sind abhängig, vor allem von ihren Vorgesetzten. Sie leiden unter ihnen, wie etwa der Chauffeur in „Seelenarbeit“. Walser sagt: „Solange man Geld verdienen muss, muss man sich beleidigen lassen.“ Der Schriftsteller spricht und schreibt hier aus Erfahrung.
Im Gegensatz zu seinem reichen Sohn stand er nicht von Geburt an auf der finanziellen Sonnenseite; schreibend Geld zu verdienen, war ein Wagnis. Sein erster, 1957 erschienener und bis heute wegen der bundesrepublikanischen Milieuschilderungen lesenswerter Roman „Ehen in Philippsburg“ war zwar ein Achtungserfolg, und auch die darauffolgenden Werke verkauften sich ordentlich, aber: „Eigentlich waren wir erst seit dem ‚Fliehenden Pferd‘, wie man sagt, im Trockenen, das war Ende der 70er-Jahre.“
Die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ist bis heute sein erfolgreichstes Buch (und vielleicht sein schönstes) – Marcel Reich-Ranicki lobte es in höchsten Tönen. Dabei hatte Reich-Ranicki noch 1976 Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ verrissen oder besser gesagt: vernichtet. „Jenseits der Literatur“ lautete die Überschrift der Rezension. Augstein konfrontiert seinen Vater mit der Kritik.
Alte Wunden platzen auf, die Wut ist noch immer da. Wut, die er 2002 in den genialen Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ verwandelte, in dem ein Reich-Ranicki nachempfundener Kritiker vermeintlich ermordet wird. Bereits nach dem Verriss schrieb Walser 1976 Reich-Ranicki einen Brief: „Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde. Mit der flachen Hand übrigens, weil ich Ihretwegen keine Faust mache.“ Bis auf die Tatsache, dass Reich-Ranicki ein „miserabler Autofahrer“ gewesen sein soll, erfährt man von Walser nichts Neues; bemerkenswert aber sind die Fragen Augsteins zum Antisemitismusvorwurf, den sich sein Vater mit „Tod eines Kritikers“ eingehandelte: „Ist der Gebrauch antisemitischer Topoi ein eindeutiges Zeichen von Antisemitismus? Oder anders: Liegt Antisemitismus immer vor, wenn ein Leser den Eindruck gewinnt, er liege vor? Oder noch anders: Unterliegt man als Autor der permanenten Pflicht, jederzeit jeden Antisemitismusverdacht vorzubeugen? Oder riskanter: Wäre eine Beschreibung Reich-Ranickis ohne den Gebrauch als antisemitisch zu bezeichnender Stereotype möglich gewesen?“ Walser geht darauf bedauerlicherweise nicht ein.
Wie zwei Romanfiguren
Das Problem mit Walser war immer, dass er ein herausragender Schriftsteller, aber kein Intellektueller ist. Der politische Walser ist banal, der literarische nicht. Daran kranken in „Das Leben wortwörtlich“ die Gespräche über Deutschland und seine Vergangenheit.
Erst am Ende werden Vater und Sohn persönlicher. Augstein versagt die Sprache, und Walser gibt zu: „Jakob, ich fürchte, diese Wirklichkeit leistet den Worten Widerstand. Mir würde es leichter fallen, unsere Geschichte zu erfinden, als sie erlebt zu haben. Wir sind unser eigener Roman.“ Ein berührendes und hochpoetisches Gespräch nimmt seinen Lauf. Doch ist es authentisch? Denn zum Schluss sagt Walser zu seinem Sohn, dass dieses letzte Gespräch so wie abgedruckt nicht stattgefunden hat: „Du hast es dir beinahe ganz ausgedacht. Warum?“ Augstein sagt kein Wort mehr. Die Antwort ist klar: Der Sohn ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten, für den bedeutet schreiben: „Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.“
Martin Walser/Jakob Augstein: Das Leben wortwörtlich. Ein Gespräch. Suhrkamp, 352 Seiten, 19,95 Euro