Tanztheater mit Popmusik
Manchmal ist das Leben eine Discokugel
Der "Last Dance" von "Let's Dance!": großes Finale eines Tanzabends, der aus der prallen Popmusik- und Tanzgeschichte schöpft.
Arek Głębocki

19 Songs von Chansons bis zu Titeln von David Bowie, Britney Spears und vielen anderen: Das Premierenpublikum feiert ausgelassen das Koblenzer Ballettensemble und den Choreografen Steffen Fuchs für den energiegeladenen Abend „Let’s Dance!“.

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Ballett mal mit ganz anderer Musik zu vereinen, genauer gesagt, mit Pop und Rock und allem links und rechts davon und darüber hinaus, ist schon oft versucht worden. Auf unterschiedliche Art und Weise, mit unterschiedlichem Erfolg bei verschiedenen Zielgruppen. Und in den gelungenen Fällen immer mit der Einsicht: Wenn sich Choreografinnen und Choreografen gänzlich auf eine Musik einlassen, egal welche, kann das Ergebnis immer eine Bereicherung sein. Wenn aber Musik nur eine auswechselbare Folie zum Abarbeiten tänzerischer Kunstfertigkeit wird – oder aber die Choreografie sich ungefiltert massentauglichen Tanzphänomenen andient, wird es schnell geschmäcklerisch.

Nun hat der Koblenzer Ballettchef Steffen Fuchs gleich 19 Stücke ausgewählt, die von französischen Chansons über 70er-Glam-Rock und 80er-Punk bis zu Pop aus diesem Jahrtausend reichen, und den Abend schlicht „Let’s Dance!“ genannt. Für Fuchs, seine Compagnie und das örtliche Publikum kein Neuland, schließlich steht der Choreograf ohnehin für eine breit gefächerte Musikauswahl aus allen Genres in teils verblüffenden Zusammenstellungen.

"Alors on danse": Mit der Tanzhymne des belgischen Sängers Stromae beginnt der neue Ballettabend des Theaters Koblenz im Theaterzelt auf der Festung Ehrenbreitstein.
Arek Głębocki

Doch dieser Tanzabend komplett mit (neuer, populärer) Tanzmusik ist etwas ganz Eigenes geworden – ein Experiment, das viel über Tanz an sich, aber auch über den Choreografen Steffen Fuchs erzählt. Ein Abend, der vom Premierenpublikum mit Beifall nach jeder Nummer und großem Jubel am Schluss gefeiert wurde.

Dabei ist sicherlich hilfreich, dass die Playlist von „Let’s dance“ viele große Hits enthält, die für viele Menschen Stationen im Leben markieren dürfte, und zu denen der eine oder die andere im Publikum selbst schon die Tanzfläche gestürmt hat. Aber vor allem gelingt es Steffen Fuchs immer wieder, Stereotype zu brechen oder zu hinterfragen – und scheinbar Unvereinbares miteinander eine sinnstiftende Beziehung eingehen zu lassen.

Eine Romanez auf dem Roten Planeten? Astrid Tinet und Yael Shervashidze tanzen zu David Bowies "Life On Mars?".
Arek Głębocki

All das entblättert sich im gelungenen Spannungsaufbau der Produktion erst nach und nach: Den Anfang macht der Hit des belgischen Sängers Stromae „Alors on danse“ von 2009. Die Tanzhymne, deren Titel auch gut über dem ganzen Abend stehen könnte, wird so serviert, wie man sich das vorstellen kann, wenn ein Choreograf mit Leidenschaft für das neoklassische Ballett loslegt: Das sechs Paare starke Ensemble wirbelt über die Bühne, formiert sich, zelebriert den erweiterten Bewegungskanon des traditionellen Balletts zu den flotten Beats, zeigt Anmut und Schönheit in farbkräftiger Trainingskleidung.

So schön, so gut – doch gleich ab dem zweiten Titel weitet sich der tänzerische Horizont, wenn Naomi Uji sich zu Klängen von PJ Harveys „Down By The Water“ ganz selbstvergessen auf der großen Bühne bewegt, sich aufwärmt und erst allmählich in eine zunächst fast wie improvisiert wirkende Choreografie findet. Sie trägt einen großen Kopfhörer, tanzt komplett, als ob niemand zusähe.

Kein Anschluss unter dieser Nummer in Trixie Mattels Song "Hello Hello" im Ballettabend "Let's Dance!".
Arek Głębocki

Und auf der panoramaförmig die Bühne nach hinten abschließenden LED-Wand pulsiert ein Oszillogramm zur Amplitude der Musik: ein sehr starkes Bild, und ein vom Kostüm- und Bühnenbildner Sascha Thomsen gemeinsam mit dem genialen Animationsdesign von Yasmin Mushtaha sehr pointiert genutzter Effekt mit viel Emotion ohne jede Video-Überwältigungsorgie. Da verläuft einmal Tinte in Wasser zu poetischen Bildern, da wird dreimal in einfach gezeichneten Linien eine einfache Landschaft beschworen, die sowohl auf Country-Klänge (Dolly Partons Originalversion von „I Will Always Love You“) als auch auf den Roten Planeten („Life On Mars?“ von David Bowie) hindeuten könnten.

Wenn sisch später zum funkigen „Groove Is In The Heart“ von Deee-Lite Naomi Uji und Emanuele Caporale in goldglitzernden, tief ausgeschnittenen Schlaghosen-Overalls auf die Bühne schlängeln, erhält Kostümbildner Thomsen sogar einen Szenenapplaus für diese Kreation. Das Spektrum reicht von Overalls im Freizeit-Kuschellook bis zum körperbetonten Trikot für eine Sechser-Cyber-Tänzerinnenformation samt VR-Brille. Und auch klassische Ballettkleidung kommt nicht zu kurz, wenn in perfektem Timing nach der Pause zu „Girl With One Eye“ von Florence an the Machine drei Ballerinen mit Tutus und auf Spitze wie aus einem romantischen Ballett entlaufen auf die Bühne trippeln. In der Auseinandersetzung mit Tänzer Jacob Noble gelingt es Naomi Uji, Nanny Milda Maria Hedberg und Clara Chastagnac dabei, eine ganz starke Botschaft des Abends zu vermitteln: Im Ausdruck liegt der ganze Unterschied. Wie die vier ganz hervorragend die Stimmung des Liedes und dessen dramatischen Mittelteil in ihren Bewegungsfluss hineinnehmen, ist hinreißend.

Die Tänzer Jia Jing Wan und Yael Shervashidze machen die Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe in „In This Shirt“ von The Irrepressibles zu einem eindrucksvollen Ruhepol des Abends.
Arek Głębocki

Nicht weniger beeindruckend, wenn auch auf ganz andere Art, vollführt Tänzerin Kaho Kishinami zwei besondere Nummern des Abends. Im Chanson „Comment te dire adieu“ von Françoise Hardy von 1968 stellt ihr die Choreografie ein stark reduziertes Bewegungsrepertoire zur Verfügung, das an die Möglichkeiten einer Gliederpuppe erinnert, im Tokioter Fusion-Sound von „Twiggy Twiggy“ von Pizzicato Five ertanzt sich Kishinami – vor einer einzelnen Cartoon-Katze auf der LED-Wand – ausgehend von kleinen grotesken Momenten ausdrucksstark und humorvoll einen großen Bewegungsspielraum.

Zum Teil der Überraschungen gehört noch Britney Spears „Toxic“, in dem Nanny Milda Maria Hedberg und Jacob Noble den Beweis antreten, dass man die Geschichte einer leidenschaftlichen, aber toxischen Beziehung sehr gut auch mit Mitteln des neoklassischen Balletts ausdrücken kann. Und auch die unerfüllte, aber gemeinsam vorgetragene Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe in „In This Shirt“ von The Irrepressibles wird so von den Tänzern  Jia Jing Wan und Yael Shervashidze zu einem eindrucksvollen Ruhepol des Abends. Dieses Innehalten wird allerdings zur höchsten Freude des Publikums gleich mit Gloria Gaynors Durchhaltehymne „I Will Survive“ wieder ins Gegenteil verkehrt, wenn vier Tanzpaare in Kostüm und Stil reinsten Formationstanzes über die Bühne wirbeln – grimassenhaftes Lachen und weitere kleine Marotten dieses Turniersports inklusive.

Türen öffnen sich zu Klängen der melodischen Ostrock-Ballade „Als ich fortging“ der DDR-Gruppe Karussell von 1987.
Arek Głębocki

Steffen Fuchs nennt die Titelauswahl des Abends vor allem biografisch begründet – so dürfte auch die melodische Ostrock-Ballade „Als ich fortging“ der DDR-Gruppe Karussell von 1987 und eventuell auch noch das textlich sehr überschaubare „Tanz du Luder“ der Dresdner Band Robert and the Roboters in die Playlist gerutscht sein. Das „Luder“ in diesem Fall ist Tänzer Noah Amann, der in einem wilden Solo eindrucksvoll von Kampfsport-Anklängen bis zum Seitspagat ausholt.

Das Ende spannt mit Donna Summers „Last Dance“ und dem kompletten Ensemble im Potpourri-Kostümreigen den Bogen zum Anfang: Schade eigentlich, dass dieser Hochenergieabend nur im Theaterzelt zu sehen sein wird und nicht an den Orten und Plätzen, wo man damit spielend ein gewaltiges, neues Publikum für Ballett und all seine Facetten begeistern könnte.

Termine und Tickets unter www.theater-koblenz.de