Premiere Hessisches Staatsballett macht mit "Kreationen" zwar Eindruck, hinterlässt aber auch viele Fragezeichen
"Kreationen": Ein Ballettabend voller Rätsel
Der zweiteilige Ballettabend „Kreationen“ am Hessischen Staatstheater beinhaltet ästhetisch schöne Szenen – das Gezeigte lässt eine Deutung aber nur schwerlich zu. Foto: Bettina Stöß
Bettina Stöß

Wiesbaden. Es ist bisweilen ein Kreuz mit der sprachlosen Tanzkunst, die heutzutage kaum mehr Geschichten darstellt, sondern von Gefühlen, Assoziationen, Mechanismen des Daseins handelt. Da kann schon die Formulierung eines Stücktitels zum Problem werden, wenn Worte nicht fassen können, was der Tanz meint. Das Hessische Staatsballett hat nun unter dem völlig beliebigen Titel „Kreationen“ einen zweiteiligen, zweistündigen Abend von zwei Choreografen herausgebracht – der den Eindruck gekonnt und hübsch bis schön getanzter, aber unlösbarer Rätselei hinterlässt.

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An der Bühnenrampe purzelt ein Mann mit Hut und Klampfe akrobatisch in einer Badewanne herum. Die Wanne ist alt, ihr einst prächtiger Goldüberzug desolat. Der clowneske Bänkelsänger weiß mit dem einstigen Prachtstück nichts Rechtes anzufangen – und ringt nun also in Form einer netten Slapstick-nummer mit der Tücke des Objekts. Knall, Schnitt, harter Gitarrenrock braust auf, der Vorhang hebt sich: Tief gestaffelt steht die ganze Compagnie auf der vernebelten Bühne des Großen Wiesbadener Staatstheaterhauses vor einer gewaltigen schmutzigen Mauer.

Nun beginnt das eigentliche Ballett „now and then“ (Jetzt und dann) des spanischen Choreografen Alejandro Cerrudo. Da ist der Wannenmann verschwunden, aber vielleicht sollen wir als seine Lieder vom Leben deuten, was folgt: eine Reihe durch ruppige Blackouts und Musikwechsel streng getrennter Einzelszenen in recht düsterer Atmosphäre? Die erste führt die Compagnie zu Tempoformationen nach Streatdance-Manier zusammen. Es folgen im Wechsel intime kleine Nummern und größere Ensembles, mal ganz hinten oben in aufklaffende Lücken der Wand platziert, mal im leeren Raum davor spielend.

Zärtlich und anrührend: das liebevolle Spiel zwischen einem Mann und seiner schwangeren Frau; ein von Freunden an Füßen gehaltenes Mädchen, das sich kopfüber ihrem Geliebten nähert; ein gemeinsam in die Gebrechlichkeit des Alters übergehendes Paar. Wuchtiger Politgegenpol: An der Wand werden reihenweise Menschen von platzenden Luftballons „erschossen“; Daniel Allwell tanzt zu Chaplins Aufruf zum Kampf für Freiheit und Demokratie aus dem Film „Der große Diktator“ ein zorniges Solo. Kitschig bis langweilig: ein Lichteffekttanz mit Handlampen im Dunkel, dies ebenso zu minimalistischer Meditationsmusik wie das end- und konturlos sich drehende Schlussduo zweier Männer.

Ratlos nimmt der Betrachter unterschiedlichste Eindrücke mit in die Pause. Noch ratloser entlässt ihn am Ende der zweite Teil, die Choreografie „The Great Trust“ von Jeroen Verbruggen zu eigens geschaffener, hochdramatischer Musik von Stefan Levin. Jetzt hat die von Ausstatter Thomas Mika für beide Teile kreierte Mauer ein Loch – gerissen von einer Rakete, die noch über der Bühne hängt. Wir deuten: Die bekannte Menschenwelt hat sich selbst zerstört, auf ihren Trümmern tanzt die kulturell wie genetisch verdrehte Restgesellschaft eine absurde Zirkusvorstellung.

Der gekonnt sich abstrampelnde Direktor (Pablo Girolani) präsentiert in der Manege die Konfrontation zwischen geisterhaft-sinnlichen Clowns und kreischenden Bürgertöchtern oder die gewaltsame Verwandlung eines geheimnisvollen Zuschauers in einen Teddybären. Am Ende der Vorstellung in diesem Gruselzirkus sind sämtliche Akteure zu geschlechtsneutralen Einheitswesen mutiert, die sich erst gemeinsam in munterem Seilhüpfen ergehen, dann die Seile als Peitschen gegeneinander benutzen. Doch, ja, es gibt bei „Kreationen“ viel zu sehen – das alles und nichts bedeuten kann.

Karten gibt es unter Telefon 0611/132.325 sowie unter www.staatstheater-wiesbaden.de

Von unserem Autor Andreas Pecht