Im Theater Bonn wird nicht, wie hier und andernorts mehrfach gesehen, einfach die Handlung des Fallada-Romans „Jeder stirbt für sich allein“ in kompakter Form szenisch nachgestellt. Vielmehr findet Regisseurin Sandra Strunz einen bemerkenswert eigenwilligen Zugang zu den Tiefenschichten des Werks, das Hans Fallada kurz vor seinem Tod 1947 binnen vier Wochen schrieb. Die wichtigste Komponente des Spiels in den Godesberger Kammerspielen ist eine beim Tanztheater entliehene Intensität des Körperausdrucks.
Teils auf Basis von Gestapo- und NS-Gerichtsakten hat Fallada den realen Fall eines Berliner Ehepaares verarbeitet, das in den frühen 1940ern mit der heimlichen Verbreitung handgeschriebener Postkarten eine private Form des Widerstandes gegen das Hitler-Regime praktizierte. Die beiden wurden schließlich denunziert, verhaftet, gefoltert, hingerichtet. Im Zentrum des Romans wie des dreistündigen Theaterabends stehen die Fragen: Was bewegt Einzelne zu solch lebensgefährlichem Tun? Was hindert andererseits Abermillionen Mitmenschen, es ihnen – mit dann erheblich besseren Aussichten auf Erfolg – gleichzutun?
Bühne wird zum Raubtierkäfig
Fragen, die Fallada auch an sich selbst richtet. Denn, so sagte er einmal verzweifelt, er habe „sich im großen Strom mittreiben lassen“ – er, der Autor, dessen Literatur zuvor ein so genaues Gespür für den Zustand von Gesellschaft und Mensch an den Tag gelegt hatte. Zur Durchdringung der deutschen Zustände anno 41/42 hat Sabine Kohlstedt in die Bühnenmitte einen drehbaren Rundturm aus Glasfenstern gebaut. Ein Raubtierkäfig in der Manege. Tatsächlich erinnert manches des als Folge kurzer Szenen konstruierten Abends an Zirkus oder Varieté: Parade des Folterkommandos, Aufmarsch der Scharfrichter, Gesangseinlagen mit verfremdeten Schlagern und Militärliedern der NS-Zeit ...
Doch lässt Strunz den Abend nie zur Revue kippen. Stattdessen benutzt sie dem Sprechtheater fremde Elemente, um jenseits des Wortes Charakterzüge und Gefühlslagen der Figuren auszudrücken. Auf den ersten Blick scheint etwa Alois Reinhardt nur einen plakativ überzeichneten SS-Obergruppenführer vorzustellen. Bald wird indes klar: Seine fast marionettenhafte Mischung aus stolzierendem Edelkörpermachismo, irrem Allmachtsgehabe und Gewaltperversion ist eine scharf konturierte, aber sehr genaue Skizze eines zur Herrschaft gelangten Nichts.
Wenn Worte nichts mehr helfen
Sinnfällig benutzt die Inszenierung Körpersprache bis in tänzerischen Ausdruck hinein. Ein Glanzstück liefert Matthias Breitenbach in der Rolle des Tischlers Quangel, der vom dumpf angepassten Sofaspießer zum Widerständler mutiert. Schmerbäuchig, lahmarschig, träge im Hirn wie mit dem Leib, stapft er wortkarg durchs Dasein. Erst behauptet er in beharrlichem Phlegma seine Ruhe gegenüber den Ansprüchen des entnervten Eheweibes (Sylvia Krappatsch). Dann bringt er ebenso beharrlich mit ihr die renitenten Postkarten unters Volk. Die Nachricht, der Sohn sei gefallen, bildet den Wendepunkt.
Am Ende muss Quangel im Gefängnis feststellen, dass seine Individualaktion nicht den erhofften Flächenbrand auslöst. Sie verpufft zwischen Landsleuten, die mal verängstigt sind, mal Weltmachtfantasien anhängen, mal in blindem Pflichtbewusstsein dem NS-System dienlich sind, mal träumen vom kleinen, privaten Familienglück abseits der Schrecklichkeiten. In all diese schwärenden Wunden legt Falladas Roman auf seine Art den Finger und die Bonner Inszenierung auf eine ganz andere, sehr interessante und nicht minder berührende bis entsetzende Art.