Wie bei jeder Bearbeitung von Romanen für Bühne oder Film, stellt sich auch bei Falladas Werk von 1932 die Frage: was weglassen? Die getreue Wiedergabe jener Vielzahl von Details, die sich im Buch zum tragischen Abstieg einer jungen Familie aus kleinbürgerlichen Hoffnungen ins verelendete Prekariat verdichtet, würde den Rahmen jedes Theaterabends sprengen. Die Mainzer Inszenierung von Alexander Nerlich nimmt sich immerhin drei Stunden und 15 Minuten Zeit, nicht nur den während der Wirtschaftskrise zum Ende der Weimarer Republik spielenden Hauptstrang der Handlung nachvollziehbar in Szene zu setzen. Besonderes Augenmerk gilt einigen (kapitalistischen) Mechanismen, die alle Bemühungen des Johannes Pinneberg und seiner Frau Lämmchen um bescheidenes Lebensglück aushebeln.
Dieser kleine Angestellte mag noch so sehr schuften, dienern und sich Illusionen hingeben: Am Ende bleibt er doch nur Humankapital, von hochgeschraubtem Arbeits-soll, den Krisen des Marktes und der Willkür seiner Arbeitgeber plattgewalzt. Dekliniert der Roman en détail die Wirkungen auf das Privatleben der Pinnebergs, so tut dies Stück in feiner Exemplarität. Johannes und das schwangere Lämmchen rechnen und rechnen, doch das Einkommen reicht nie – weder in der Provinz noch in Berlin, wohin sie von der egozentrisch-hysterischen Mutter Pinneberg mit erlogener Aussicht auf gute Anstellung gelockt werden.
Als Schwachpunkte der gleichwohl packenden, anrührenden, teils humorig und mit metaphorischer Surrealistik angereicherten Inszenierung könnten gelten: Falladas akribischer Blick auf den langen, frustrierenden Marsch durch das Sozialhilfesystem bleibt weitgehend ausgeklammert. Ebenso das Abdriften des bald arbeitslosen, verzweifelten Johannes in kleine Elendsgaunereien. Erst in der Schlusssequenz taucht etwa das Arbeitsamt auf. Dort musste er den ganzen Tag anstehen. Weshalb die Geschäfte nachher geschlossen sind, als er Nahrung fürs Baby kaufen will. Händeringend und heruntergekommen vor dem Laden stehend, wird Johannes von einem Polizisten zusammengeschlagen. Da erst begreift er vollends, dass er nun zu den Ausgestoßenen, den Abgehängten gehört, und erkennt: „Armut macht verdächtig, ist strafwürdig.“
Mark Ortel gibt trefflich den Kleinbürger, der sich in der Hoffnung auf das Glück des Tüchtigen bis zur völligen Erschöpfung und Selbsterniedrigung abarbeitet. Dem es zugleich ein ums andere Mal die Hoffnung auf Besserung zerschlägt. Kruna Savics Lämmchen ist eine bemerkenswerte Erscheinung. Sie sehnt sich ebenfalls nach dem kleinen familiären Glück. Als Kind einer proletarischen Familie geht die Frau das Leben allerdings in zupackender Illusionslosigkeit an.
Neben diesen beiden sind fünf weitere Mitspieler in mehreren Rollen zu sehen, die beinahe durchweg je schlüssige Eigencharaktere zeichnen. Die aus einer Passage zwischen zwei Säulengängen bestehende Bühne von Zana Bosnjak wird mittels Projektionstechnik zum Multifunktionsraum. Die unstete Zersplitterung des Lebens findet ihre Spiegelung in meist Schwarz-Weiß gehaltenen, auf Wandflächen geworfenen Chaosmosaiken. Ein Genuss per se sind an diesem Abend ebenso sinnfällig eingesetzte wie raffinierte Szenenwechsel und überraschende Darstellungskniffe mit oft einfachsten Mitteln.
Was für den Romanschluss seit jeher strittig diskutiert wird, gilt auch fürs Stück: Im Grunde hat Fallada die Wirkung „des Systems“ auf den „kleinen Mann“ sehr genau beschrieben. Und doch gibt er auf seine Titelfrage „Was nun?“ keine das System betreffende, es verändern wollende Antwort. Er verweist vielmehr auf Liebe und Vertrauen im Privaten als letztem Rettungsanker selbst im Elend. Womit wir mittendrin wären im heutigen Gesellschaftsdiskurs.
Weitere Aufführungstermine und Infos zum Stück gibt's unter www.staatstheater-mainz.com