Auftakt Staatstheater beginnt tanzmainz-Spielzeit mit zwei ganz gegensätzlichen Stücken - Wiederaufnahme des "Faust"-Preisträgerstücks
Klein, leise, zart: Ein Tanzabend ohne Geschlechterrollen

„Im Orbit“ ist der 22-minütige, ununterbrochene Tanzfluss zu elektronischem Klanggewebe im neuen Mainzer Tanzabends betitelt.

Andreas Etter/Staatstheater Main

Mainz. Die erste Tanzproduktion der neuen Spielzeit am Staatstheater Mainz besteht aus zwei schier gegensätzlichen Stücken. Da kommt „Im Orbit“ zur Uraufführung, eine kleine, kurze, leise, zarte Arbeit der britisch-zypriotischen Düsseldorferin Alexandra Waierstall. Darauf folgt die Wiederaufführung der furiosen großen Tempochoreografie „Fall Seven Times“, die das libanesisch-spanische Choreografenpaar Guy Nader und Maria Campos 2016 für Mainz kreiert hatte und die 2017 mit dem deutschen Theaterpreis „Faust“ ausgezeichnet wurde.

So unterschiedlich die beiden Teile sind, ist ihnen doch eines gemeinsam: Unisex – Tänzerinnen und Tänzer werden nicht mehr nach Rolle, Funktion, Bewegungsrepertoire, Kostüm geschlechtlich unterschieden. Bei Waierstall tragen die mitwirkenden drei Frauen und zwei Männer einheitlich knappe Kurzhosen und Trägerhemden (Ausstattung beider Stücke: Lucia Vonrhein). Im nur 22-minütigen unentwegten Tanzfluss zum elektronischen Klanggewebe (Hauschka, Marios Takoushi) sind sie unterschiedslos gleichgewichtige Elemente.

„Im Orbit“ kennt keine Geschlechterrollen. Jeder der fünf Akteure behauptet seine Individualität, dreht sich um sich selbst, zugleich jedoch streben alle auch nach Gemeinsamkeit. Dazwischen kurze sanfte Berührungen, die ein sich mal entwickelndes, bald wieder lösendes Beziehungsgeflecht andeuten: In ruhigem, gleichwohl aus zahllosen genau gesetzten Tanzbewegungen bestehendem Strom, hält das Quintett die Schwebe zwischen Vereinzelung und Verschmelzung.

Geschlechterrollen kennt auch „Fall Seven Times“ nicht. Die vier Frauen und sieben Männer tragen allesamt Freizeitdress aus langer Hose und langarmigem Shirt. Und bei dem, was sie 43 Minuten lang zu treibender Minimalmusic von Miguel Marin sportiv bis artistisch über die Bühne wirbeln, wird jede Hand, jeder Arm, jeder Körper in optimal präzisem Einsatz und maximal ausgeschöpfter Kondition benötigt.

Der Stücktitel rekurriert auf das asiatische Sprichwort „Wenn du siebenmal fällst, stehe achtmal wieder auf“. Er könnte aber auch lauten: Urvertrauen. Wer fällt, wer fängt? Wer ist Heber, wer Gehobener? Wessen Rücken dient als Sprungbrett, wessen Schenkel sind Drehachse, welche Arme vereinen sich zum Katapult, welche Körper sichern die Landung der Geschleuderten, der Fallenden, der Rückwärtsstürzenden? Ob Mann, ob Frau, ist egal. Jede/r muss gleichermaßen im rechten Moment an der richtigen Stelle zupacken oder sich dem/der anderen respektive allen vertrauensvoll hingeben. Die Frauen agieren hier so dynamisch, kraftvoll und selbstbewusst wie die Männer. Was aber wird bei solchem in der zeitgenössischen Tanzkunst inzwischen weit verbreiteten Unisexpraxis aus der weiblichen Grazie? Sie war schließlich über Generationen das zentrale Element des Balletts. Ist Weiblichkeit nun perdu? Eher kann das Gegenteil konstatiert werden. Beide Teile der jetzigen Produktion bei tanzmainz zeigen: Die aus der Ballerinafunktion herausgelösten Tänzerinnen verströmen eine ganz andere Art von Weiblichkeit; sie sind freie, starke, natürliche Frauen, eigenständige Persönlichkeiten mit enorm erweiterten tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Übrigens: Die Emanzipation der Tänzerinnen von der überkommenen Rollenzuweisung befreit zugleich die Tänzer vom Korsett, Pfau, Held oder Teufel sein zu müssen beziehungsweise bloß Stützer und Heber der Ballerina sein zu dürfen.

Termine und Tickets unter Tel. 06131/285 12 22

Von unserem Autor Andreas Pecht