Die junge Frau hat schlechte Laune. Missmutig blickt sie dem Betrachter entgegen, den Kopf in eine Hand gestützt und nah dran am Bildrand, während der Hintergrund ins Dunkel gehüllt ist. Mit Feder und Pinsel hat die Künstlerin ihr Selbstbildnis um 1890 gezeichnet, mit etwa 23 Jahren. Kaum zu glauben, dass das Bild von Käthe Kollwitz (1867-1945) stammt, dem „guten Gewissen Deutschlands“, wie sie dank ihrer Sozialkritik oft genannt wurde.
Die Kollwitz, die immer Leid, Krieg und Tod schilderte, als private Zeichnerin? Die gibt es nur in den weniger bekannten, rund 100 SelbstporträtsDas ist die erste von drei Überraschungen im Frankfurter Städel, das sich mit 110 Werken an eine Retrospektive wagt, also nicht nur Selbstporträts zeigt. Die zweite Überraschung ist, dass das Städel rund 250 Grafiken und wenige Skulpturen von Kollwitz besitzt, schon 1964 erworben von einem Frankfurter Sammler. Aber braucht es von der populärsten Künstlerin des 20. Jahrhunderts, nach der Schulen und Straßen landauf, landab benannt sind, überhaupt noch eine Überblicksschau?
Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.
Käthe Kollwitz notierte 1922 in ihrem Tagebuch, worum es ihr mit ihrem Schaffen ging.
Ja, lautet die Antwort, obwohl es seit fast 40 Jahren auch zwei Kollwitz-Museen in Köln und Berlin gibt. Denn die Künstlerin wurde nach ihrem Tod von allen Seiten vereinnahmt und in Schubladen gesteckt. Der Westen lobte ihren humanistischen Kampf gegen Ausbeutung und Elend, der Osten ihren Kampf gegen Kapitalismus und Krieg. Aber dem Städel gelingt es, so die dritte Überraschung, Kollwitz vom Ruch der Propaganda-Künstlerin zu befreien. Käthe Kollwitz war in keiner Partei, engagierte sich aber immer dort, wo es ihr wichtig schien. Um was es ihr ging, notierte sie 1922 in ihr Tagebuch: „Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.“
Anfangs war die Künstlerin selbst auf der Suche, zu der Zeit, als sie das Kunststudium beendete und das Selbstbildnis anfertigte. Damals las sie ein Buch des Bildhauers, Malers und Grafikers Max Klinger; er schrieb, dass die Malerei nur dem Genießen von Farben und Formen diene, während man beim Zeichnen die Welt so darstellen könne, wie sie sei. „Ich bin ja gar keine Malerin“, meinte Kollwitz etwas verwundert, obwohl sie Talent zum Malen hatte, wie das Städel an einigen impressionistisch angehauchten Garten- und Frauen-Bildern zeigt. Heute ist nur noch ein kleiner Teil ihres Frühwerks vorhanden, da sie sich bald nach Lektüre des Klinger-Buches nur noch mit Zeichnung und Druckgrafik beschäftigte.
Dafür wird gleich eingangs beim Betrachten der knapp 20 Selbstporträts klar, dass Käthe Kollwitz gern experimentierte. Sie wollte aus jeder Technik das Maximum herausholen, meint Kuratorin Regina Freyberger. Dabei kamen Kollwitz die vielen Arten von Druckgrafiken entgegen. Mal zeigte sie ihr Gesicht in einer Radierung mit feinen Linien, mal in einem Holzschnitt mit groben Kontrasten – stets passend zum Anlass.
Spannend zu verfolgen ist auch, dass die ähnlich dramatischen Motive von Kollwitz und Klinger doch nicht viel gemeinsam haben. Klinger zeigt bei seinen Menschendarstellungen immer die Landschaft, die Stadt oder zumindest den Hintergrund. Das ist für Kollwitz nicht so wichtig, sie rückte lieber nah an den Menschen heran, verlegte die Dramatik ins Antlitz, unterstützt von den sprechenden Händen.
Ohnehin widmete sich Kollwitz nicht solchen Themen wie Stillleben oder Kinderbildern, die damals Frauen „erlaubt“ waren, sondern dem Leben aus der Frauenperspektive. Dazu gehört das Motiv der unehelich Schwangeren. Kollwitz zeigt 1893 eine Verzweifelte, an der Kirchenmauer sitzend, eine Hand vors Gesicht geschlagen, die andere auf dem Knie liegend – es sind grobe, von der Arbeit geprägte Hände, die einem Mann gehören könnten. Diese reduzierte Körpersprache genügte Kollwitz, aber Klinger brauchte zu dem Motiv eine gehässige Frauengruppe.
Käthe Kollwitz indes war schon früh politisch interessiert. Doch zur Pazifistin wurde sie erst durch den Tod ihres Sohnes Peter. Der wollte als 17-Jähriger in den Ersten Weltkrieg ziehen, benötigte aber die Erlaubnis der Eltern. Der Vater lehnte ab, doch die Künstlerin überredete ihren Mann zu der Erlaubnis. Kurz darauf, im Oktober 1914, fiel Peter auf dem Schlachtfeld.
Fortan arbeitete sie lieber mit den expressiven Strichen und Konturen von Kohlestift oder Holzschnitt, rückte zudem den Krieg in den Vordergrund. Im „Krieg“-Zyklus von 1921/22 treten „Die Freiwilligen“ auf – manche folgen blindlings dem Anführer mit dem Totenkopf, andere nur widerstrebend oder verzweifelt. Die wenigsten unversehrt kehrten zurück.
Ein weiteres Kapitel widmet das Städel auch dem Motiv von Frau und Kind, die sich unauflöslich umklammern. Doch Kollwitz ist nicht auf dieses oft überinterpretierte Motiv zu reduzieren. Sie war eine mutige Künstlerin, die unerschrocken und schonungslos den Finger in die Wunde legte, aber zugleich voller Empathie und Experimentierfreude war.
Die Käthe-Kollwitz-Retrospektive ist noch bis zum 9. Juni im Frankfurter Städel zu sehen. Informationen zur Ausstellung und deren Besuch gibt's hier.