Auf einer großen Weltkarte im Foyer lassen sich die Dimensionen dieser Ausstellung bereits erahnen: In zahlreichen Ländern auf nahezu allen Kontinenten sind dort Markierungen zu finden – Afghanistan, Indien, Turkmenistan, Marokko. Nachdem die Internationalen Tage in Ingelheim 2024 noch ganz entspannt zu Hause geblieben waren, Kunst aus und über die eigenen vier Wände gezeigt hatten, zieht es die renommierte Werkschau im Kunstforum – Altes Rathaus dieses Jahr in die Ferne, geht es auf Reisen. Und das nicht mit irgendwem, sondern mit ausgewählten Pionierinnen der Fotografiegeschichte.
„Neugier, Mut und Abenteuer“ lautet der Titel dieser spannenden Präsentation, in der sich die genannten Schlagworte in rund 180 Aufnahmen von mehr als 20 deutschsprachigen Fotografinnen manifestieren. Es ist ein Streifzug durch den Alltag fremder Menschen, ein Kaleidoskop verschiedenster Perspektiven auf die Welt, zu dem Katharina Henkel als Leiterin der Internationalen Tage anmerkt: „Über Reisefotografinnen ist – im Gegensatz zu deren männlichen Kollegen – recht wenig bekannt, daher wollten wir in der Ausstellung bewusst und ausschließlich sie präsentieren.“
Pionierin der Reisefotografie
Dass die Werkschau dabei laut Henkel erst die zweite ihrer Art im deutschsprachigen Raum ist, überrascht beim Blick auf die (damaligen) gesellschaftlichen Realitäten nicht wirklich, ist dadurch aber kaum weniger bedauernswert – auch weil die gezeigten fotografischen Erzeugnisse denen der Männer in nichts nachstehen. „Frauen“, erklärt Henkel hierzu, „waren oft sogar risikofreudiger, wenn es darum ging, neue Orte zu entdecken und hierfür physische und psychische Grenzen zu überwinden.“ Weshalb die Schau auch als (späte) Würdigung verstanden werden darf für jene „mutigen, taffen, emanzipierten Persönlichkeiten“, wie Henkel betont, deren Beweggründe fürs Reisen zu unterteilen seien in „journalistische Auftragsarbeiten, die Dokumentation archäologischer Grabungen und historischer Stätten sowie eigene künstlerische Projekte“.
Die Ausstellung folgt dieser Gliederung nun thematisch und widmet sich dabei in der ersten Sektion mit Alice Schalek (1874–1956) gleich einer der Vorreiterinnen der frauengemachten Reisefotografie: Im Auftrag der fortschrittsgewandten Zeitschrift „Die Dame“ besuchte die Österreicherin 1929 Indien und lieferte von dort eine bemerkenswerte Fotoreportage nebst eigenen Texten, was damals einer mittelgroßen Sensation gleichkam.

Kamele und Transportelefanten sind auf ihren Bildern zu sehen, belebte Straßenszenen in Jodhpur oder der Blick durch einen Torbogen auf den Palast von Jagmandar. Wobei Henkel im Angesicht dieser letztgenannten Aufnahme schon einmal vorwegnimmt: „Es gibt Motive, die alle Fotografinnen über die Generationen hinweg interessieren: bestimmte Architekturelemente wie der Fensterbogen etwa, das Zusammensein von Menschen bei Handel, Arbeit oder der Nahrungsaufnahme – und wenn wir ehrlich sind, bringt solche Fotos auch heute noch jeder von uns mit aus dem Urlaub.“
Die „klassischen Bildinhalte“, wie Henkel sie nennt, ziehen sich im Folgenden tatsächlich konsequent durch die Schau, verdeutlichen dabei aber mehr die verschiedenen fotografischen Spielarten, transportieren feine kulturelle Unterschiede, als dass sie zu irgendeiner Zeit langweilig würden.
Fokus auf den Menschen
Menschen beim Broterwerb zum Beispiel zeigen neben Alice Schalek auch Lotte Errell (1903–1991), die im Iran 1934 den Bau eines Hauses dokumentierte – und hierbei vor allem den Herstellungsprozess der strukturgebenden Ziegel –, oder Inge Morath (1923–2002), ihres Zeichens erste Fotografin bei der renommierten Bildagentur Magnum, die 1955 in Venedig unter anderem lachende Fischer am Riva degli Schiavoni ablichtete, daneben auch die Angestellten einer Gondelwerft beim letzten Feinschliff an den schwimmenden Wahrzeichen.
Was an dieser und vielen weiteren Stellen auffällt, ist der humanistische Fokus, wenn man so will: Touristenattraktionen wie Dogenpalast oder Markusdom taugen hier höchstens als Kulisse, im Vordergrund stehen stets der Mensch und dessen Handeln. So auch bei Gerti Deutsch (1908–1979), die in ihrer Japan-Serie aus dem Jahr 1960 mal die Geisha im traditionellen Gewand bei der Teezeremonie zeigt, mal eine Kaufhausszene, in der westlich gekleidete Japanerinnen an westlich anmutenden Schaufensterpuppen vorbeischlendern.

Dieser „Kontrast zwischen Tradition und Moderne“, sagt Henkel, das gekonnte Spiel mit den Gegensätzen sei dabei ein weiteres Merkmal der Ausstellung – das sich so auch unter den dokumentarisch motivierten Arbeiten findet. Bei Herlinde Koelbl etwa, die 2018 eine archäologische Expedition nach Turkmenistan begleitete, dort pflichtbewusst bronzezeitliche Sitzfigurinen und Adlerfiguren fotografierte, in ihrer Freizeit aber eben auch Land und Leute, hier einfache Schäfer auf Eseln , dort die futuristisch anmutende Hauptstadt Aşgabat, in deren Fassaden sich der vom Öl genährte Reichtum schon eher spiegelt.
Während Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) ähnlich wertvolle Zeitdokumente bereits 90 Jahre zuvor lieferte – die Schweizerin, Stichwort risikofreudig, reiste 1939 mit dem Auto nach Afghanistan, um neben zahlreichen historischen Stätten auch die dort lebenden Menschen zu porträtieren, Männer beim Abwägen von Waren oder Frauen beim Weben von Schafswolle –, eröffnet die finale Ausstellungssektion mit ihren freien künstlerischen Arbeiten noch einmal ganz neue Perspektiven auf das Thema.

Dem Besucher begegnen hier unter anderem die magisch anmutenden und von Spiegelungen dominierten Aufnahmen Franziska Stünkels, eine Szene aus Chicago beispielsweise, in der ein Bus zwischen Wolkenkratzern und Passanten scheinbar geradewegs zufährt auf ein Motorboot. Kognitiv kaum greifbare Eindrücke, bei denen es sich in Wirklichkeit um die Reflexionen von (realem) Straßen- und auf Foto festgehaltenem Wasserbild handelt, die in einer Fensterscheibe aufeinandertreffen.
Barbara Klemm wiederum ist in der Schau mit einer Reihe imposanter Naturmotive vertreten – die Matterhorn-Spitze gleich unterhalb des Vollmonds etwa oder die tosenden Iguazú-Wasserfälle in Brasilien –, die die hoch angesehene Pressefotografin auf ihren beruflichen Reisen privat eingefangen hat.

Und auch die erst 2024 entstandene Serie Anne Schönhartings fällt ins Auge mit ihren Pflanzen und Bäumen, die – von nächtlicher Beleuchtung kunstvoll inszeniert – einen scheinbar aussichtslosen Überlebenskampf in der Betonwüste Hongkongs führen. Wobei das wenige Grün in der weitläufig versiegelten Millionenstadt „im wahren Wortsinn ins Rampenlicht gerückt und gefeiert wird, während es sonst in der Hektik des Alltags fast unsichtbar bleibt“, sagt Katharina Henkel über diese Liebeserklärung an die Natur.
Doch: Exemplarisch für die Ausstellung ist aus ihrer Sicht letztlich ein anders Bild, das „fabelhafte Porträt“ eines sudanesischen Arbeiters, der unbeschwert lachend und mit blitzenden Augen in die von Fee Schlapper (1927–2000) gehaltene Kamera schaut. „Solche Fotos“, sagt Henkel, „entstehen nur, wenn man den Menschen positiv neugierig und auf Augenhöhe begegnet, wenn man sie nicht von oben herab betrachtet.“ Ein Arbeitsethos, das die ausgestellten Fotografinnen allesamt verinnerlicht hätten – mit dem Ergebnis, „dass wir hier nun Bilder sehen, die sehr nah dran sind an den Menschen“.
Die Ausstellung eröffnet im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus am Sonntag, 4. Mai, und ist dort in der Folge bis zum 13. Juli zu sehen. Weitere Infos, auch zum umfangreichen Begleitprogramm zwischen Lesungen und Filmabenden, unter www.internationale-tage.de