Die Bilder Gan-Erdene Tsends sind trügerisch – in einem angenehm fordernden Sinne: Traum und Wirklichkeit treffen dort aufeinander, Reflexionen und Schatten dominieren die Flächen, auf denen das Gezeigte nur selten das ist, was es scheint, Inhalte kaum zu beschreiben sind in Worten, das visuell Verborgene dennoch bald sichtbar wird für den Verstand.
Wenn in den Spiegelungen einsam gezeichneter Menschen plötzlich imaginäre Weggefährten auftauchen, geht es Tsend stets um Hoffnungen und Sehnsüchte, um Fantasie und – teils schmerzhafte – Erinnerungen. Der in der Mongolei geborene Künstler ist ein meisterhafter Porträtist des menschlichen Seelenlebens, ein Vermittler zwischen den Welten, der nach seiner Teilnahme an den Kunsttagen Winningen im vergangenen Jahr nun erstmals auch mit einer Soloschau in Koblenz zu Gast ist.
Verdinglichte Träume
In der dortigen Galerie Laik präsentiert der Maler noch bis Ende Juni eine Auswahl seiner bemerkenswert vieldeutigen Arbeiten, über die er selbst im Gespräch mit unserer Zeitung sagt: „Meine Bilder entstehen aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch in sich zwei verschiedene Leben vereint: ein ideelles, das – von außen unsichtbar – vor allem in unseren Gedanken stattfindet, und ein reales, das sich im Körperhaften ausdrückt.“
Die konsequent verwendeten Stilmittel Schatten und Spiegelung, ergänzt der Künstler, benutze er dabei als „Metapher, mit der ich die Gedanken, Träume und Hoffnungen der dargestellten Personen verdingliche und ihrem tatsächlichen Leben gegenüberstelle“. Ein Prinzip, das in der Ausstellung gleich zu Beginn sehr eindrücklich erfahrbar wird durch das Bild eines Mannes, der die obere Werkhälfte noch uniformiert und allein durchschreitet, die Fläche unterhalb der horizontalen Spiegelung dann allerdings in Zivilkleidung und von einer Frau begleitet.

Die 2023 entstandene Arbeit, sagt Tsend, sei ein Reflex auf Konflikte wie den Ukrainekrieg, in dem „Soldaten ihr Land verteidigen, weil sie sich dazu verpflichtet haben, gleichzeitig aber eben auch Menschen sind, die sich einfach nur wünschen, in Frieden zu leben und bei ihren Familien zu sein“.
Die hier aufgezeigte Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, der ebendort aufkeimende Schmerz, er ist immer wieder herauszulesen aus den gezeigten Bildern, schwingt gleichfalls mit in den fortlaufenden Motiven tanzender Menschen, die sich in der realen Welt – wie der Soldat – einsam bewegen, in ihren Spiegelungen und Schattenwürfen derweil begleitet werden von den erdachten Ebenbildern der tatsächlich Abwesenden.
„In der Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was war oder sein könnte, kommt immer auch der Verlust zum Vorschein.“
Gan-Erdene Tsend
Sind es verstorbene Angehörige? Vergangene Freundschaften? Ersehnte Liebhaber? Man erfährt es nicht. Für Tsend jedoch zählt ohnehin mehr die Symbolik. Die nur geistig sichtbaren Personen, sagt er, seien ein bildhafter Ausdruck dafür, „dass es immer auch unkontrollierbare Einflüsse gibt, die unser Leben in andere Bahnen lenken als die von uns erhofften“. Was in seiner Unausweichlichkeit wiederum auch Auswirkungen hat auf unser Empfinden, denn: „In der Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was war oder sein könnte, kommt immer auch der Verlust zum Vorschein“, erklärt der Künstler, der seine Werke trotz solcher Interpretationsleitplanken stets deutungsoffen gestaltet, sie auch als Anregung versteht, sich „mit dem eigenen Innenleben auseinanderzusetzen“, wie er sagt.
Als Reflexionsfläche wirkt das Gezeigte somit auch nach außen hin, lässt dem Betrachter ausreichend Raum für das Wiedererkennen eigener Gefühlswelten, persönlicher Erfahrungen. Wie auch auf jenem großformatigen Ölgemälde, auf dem zwei Mädchen schwerelos durch die Lüfte gleiten, Arm in Arm, wortwörtlich im Schwebezustand – auch das ein gängiges Motiv in Tsends Arbeiten, der zu diesem konkreten Bild ausführt: „Mir geht es hier um die Bewegung im Sinne von Wanderung oder auch Auswanderung, um die Suche nach einer neuen Heimat und die Ursachen dafür.“

Die Mädchen, verdeutlicht er, „befinden sich vor diesem Hintergrund ebenfalls in einer Zwischenwelt: Sie existieren noch, haben in ihrer aktuellen Situation aber keinen festen Boden unter den Füßen, befinden sich zwischen Himmel und Erde, doch irgendwann werden sie auch wieder landen – und daraus schöpfen sie Hoffnung.“
Wobei dieser – oft gesellschaftlich kontextualisierte – Blick in das Innere des Menschen letztlich nur einen Schwerpunkt darstellt in Tsends kreativem Schaffen. Der andere indes ist maßgeblich geprägt durch die tiefe Verbundenheit zu seiner Heimat, die Kindheitserfahrungen in der mongolischen Steppe, deren Landschaft er in seinen Bildern nicht nur als zuverlässige Kulissengeberin integriert, sondern ihr daneben auch vielfach eigenständige Werke widmet.

In Gestalt von zahlreichen Motiven mongolischer Pferde etwa, zu denen der Wahl-Münsteraner anmerkt: „Für die Nomaden, bei denen ich aufgewachsen bin, sind die Pferde als Nutztiere unheimlich wichtig. Aber sie haben auch eine große Ähnlichkeit zu uns Menschen, weil es soziale, gesellschaftliche Wesen sind, die sich gegenseitig unterstützen.“
Als „Seelenverwandte“ bezeichnet Tsend die Vierbeiner daher auch, die in der Galerie nun auf klassischen (Landschafts-)Darstellungen ebenso zu finden sind wie auf den charakteristischen Spiegelmotiven, unter denen der „Kuss“ besonders ins Auge fällt, das Gemälde eine Stute, die den Kopf herabsenkt zum Wasser, während ihre Reflexion an den Hinterläufen noch erweitert wird um ein nur in Ansätzen erkennbares Fohlen.
Mehr Innenansicht wagen
Es ist eine surreale Komposition, die nach den Worten des Künstlers durchaus verstanden werden kann als Anspielung auf eine bevorstehende Geburt, auf einer übergeordneten Ebene aber vor allem die enge Verbundenheit zwischen Mutter und Kind symbolisiert, die Tsend dann auf einer anderen Arbeit auch noch einmal sehr persönlich aufgreift: anhand zweier (Lebens-)Wege, die sich – der eigene schmal, der seiner Mutter breiter – parallel durch die endlose Weite der mongolischen Steppe ziehen, um in der Ferne, kurz vor dem Horizont, schließlich ineinander überzugehen.
Ein weiteres vielsagendes Bild aus einer beispiellosen Sammlung, die weniger betrachtet werden will als vielmehr erlebt, deren Themen am Ende auch den Urheber selbst „inspirieren und bewegen“, wie Tsend sagt, um – quasi als finale Anregung – hinzuzufügen: „Wir achten in Zeiten der sozialen Netzwerke eigentlich nur noch auf das Äußere und haben dabei ein Stück weit den Blick für unsere innere Welt verloren. Dabei macht gerade die uns als Menschen aus.“
Die Ausstellung ist in der Galerie Laik, Altenhof 9, in Koblenz, noch bis zum 30. Juni zu sehen – montags bis freitags von 11 bis 18 Uhr sowie samstags von 11 bis 14 Uhr.