Premiere Schauspiel Bonn
Galoppierender Populismus
Hoch zu Ross: Michael Kohlhaas (Janko Kahle) ist auf der Schauspielbühne in Bad Godesberg ein maßloser Racheengel.
Matthias Jung

„Kohlhaas (Can’t Get no Satisfaction)“: Die junge Berliner Regisseurin Rebekka David hat die Erzählung über den Rachefeldzug eines wütenden Pferdehändlers gegen die Obrigkeit für das Bonner Schauspiel in die Gegenwart geholt und weitergeschrieben.

Was ist Gerechtigkeit? Ein soziales Konstrukt, eine kodifizierte Sammlung von Werten und Normen, die das Zusammenleben regelt und die verschiedenen Rechtserwartungen zweier oder mehrerer Parteien gegeneinander abwiegt? Ein quid pro quo, ein Auge um Auge? Wer entscheidet, was gerecht ist, und wer darf einfordern, was rechtens ist? Wie viel ist ein stolzer Rappe wert, der verkauft werden soll, wie viel, wenn er als Ackergaul geschunden wurde? Und was ist mit einem Menschenleben?

All diese Fragen spielen in Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ aus dem Jahr 1810 eine entscheidende Rolle. Die Titelfigur, ein ehrbarer Pferdehändler, wehrt sich gegen die Willkür eines selbstgefälligen Junkers, hofft auf die Gerichte und die Urteile der Landesfürsten – und nimmt schließlich das Recht selbst in die Hand, was eine Spirale der Gewalt entfacht, in der die Gerechtigkeit qualvoll zugrunde geht. Nun hat das Theater Bonn den Stoff aufgenommen und in „Kohlhaas (Can’t Get No Satisfaction)“ mit dem gesamten Spektrum des gesellschaftlichen und politischen Protests verknüpft, was zu einigen interessanten Lesarten führt. Und zu teils abstrusen Szenen.

Eine selbstdeklarierte „Maßlosigkeit“

In der erarbeiteten Stückfassung und in der Inszenierung der Berliner Regisseurin Rebekka David, die von vornherein als „Maßlosigkeit“ bezeichnet wird, ist Michael Kohlhaas (Janko Kahle) alles andere als ein getriebener Antiheld, der gegen das korrupte System kämpft: Nein, auf der Schauspielbühne Bad Godesberg steht vielmehr ein maßloser Racheengel, der das Vertrauen in den Staat verloren hat und daraus das Recht ableitet, gnadenlos rauben, morden und brandschatzen zu dürfen.

Dabei schert er sich nicht darum, dass seine Taten und die seines marodierenden Haufens in erster Linie die Schwachen und die Unschuldigen treffen, die Bürgerinnen und Bürger, die nicht das Geringste mit dem ihm widerfahrenen Unrecht zu tun haben. Ebenso wenig hinterfragt er seine Handlungen, zeigt sich zu keinem Zeitpunkt reumütig, sondern stilisiert sich vor Reformator Martin Luther (Birte Schrein) sogar noch als Engel.

Titelfigur bleibt eindimensional

Dieser Ambivalenz beraubt, ist die Figur des Kohlhaas allerdings eindimensional und für den eigentlichen Diskurs auf der Bühne weitgehend irrelevant. Ja, er hat das Feuer der Rebellion entzündet, doch sind es seine Gefolgsleute (vor allem der brillante Daniel Stock als Waldmann), die es verbreiten und ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit in von Metaphern grotesk überladenen Szenen zwischen den Ruinen der zerstörten Städte und Burgen diskutieren.

Während die Mittlerin (ebenfalls Birte Schrein) zum friedlichen Protest mit Menschenketten und Demonstrationen aufruft, um gegen die alte Ordnung vorzugehen, sehnt sich Küchenknecht Karl (Jacob Z. Eckstein, der noch fünf andere Rollen meistert) zurück ins ständische System. Und Waldmann? Will die Welt brennen sehen und geriert sich mit schlichten Formeln – und der ein oder anderen, bitteren Wahrheit – sogleich als Stimme des Volkes. Er fordert eine neue Ordnung, eine, die alles auf den Kopf stellt und dafür auch Gewalt akzeptiert. Und zwar eine, die aufstößt. Selbst die brutale Untat der Magd Herse (Klasse: Karolina Horster), die bei der Erstürmung der Burg Tronka kurzerhand den Vogt, seine Frau und deren Kinder aus dem Fenster wirft, wird auf einmal akzeptabel statt justiziabel, solange dies nur in „geordneten“ Bahnen verläuft. So geht Populismus. Und Schlimmeres.

Ein Pluspunkt der Bonner Neuinszenierung ist die eine schlichte, aber effektive Bühne (Robin Metzer) und das grandiose der Produktion.
Matthias Jung

All die Anspielungen auf Revolten, Bürgerkriege und Umwälzungen aller Art (inklusive etlicher Verweise auf die radikale Umstrukturierung der USA durch Donald Trump) sind nicht immer leicht zu entdecken und fordern vom Publikum einiges ab. Umso irritierender wirken dann aber die klamaukigen Passagen, insbesondere die zahlreichen Ritte von Burg zu Burg und von Stadt zu Stadt, bei denen Regisseurin David ein ums andere Mal auf Gags der britischen Comedytruppe Monty Python aus den 1970er-Jahren zurückgreift – nur die Kokosnüsse (aus deren Film „Ritter der Kokosnuss“ von 1975 werden der Handlichkeit halber durch Kastagnetten ersetzt.

Hop Hop Hop, kommt Kohlhaas im Galopp. So werden spannende Ansätze der Lächerlichkeit preisgegeben und die Spielzeit ohne Not auf zwei Stunden gedehnt. Demgegenüber stehen zum Glück eine schlichte, aber effektive Bühne, ein grandioses Lichtdesign sowie die grundsätzlich kluge Grundidee, den Kohlhaas mit der Gegenwart zu verknüpfen. Das sorgt für diverse Denkanstöße. Was heutzutage wichtiger ist als jemals zuvor.

Infos und Termine online unter www.theater-bonn.de